Ich bin Buchgourmet und Buchgourmand quer durch viele Genres
Hallo meine Lieben!
Im Juni habe ich ausnahmsweise wieder mehr Bücher von männlichen Autoren gelesen Jene Bücher von Autorinnen, die ich gelesen und rezensiert habe, waren höchst unterschiedlich von sehr gut bis mittelmäßig, aber schlecht war gar keines. Zudem habe ich einige neue Autorinnen, von denen ich noch nie etwas gehört habe, aus den Rezensionsexemplaren für Herbst bestellt, ich bin schon sehr gespannt, was da kommt und wie es ist. Jene Reziexe, die schon angekommen sind, findet Ihr ganz oben auf meiner to-do Liste der Rezensionen. Da ich auch einige Autorinnen aus Slowenien bestellt habe, und einige von Euch ja gerne mit Büchern um die Welt reisen, habe ich mich entschlossen, auch das GeburtsLand bzw. Land des Wohnortes zur Autorin dazuzuschreiben
Meine Wunschliste und der grobe Leseplan das meiste von meinem SUB
8.) Christine Nöstlinger AT: Maikäfer flieg (currently reading)
7.) Franka Potente DE: Zehn (currently reading)
6.) Lilian Faschinger AT: Die neue Scheherazade ⭐️⭐️,5 Sterne (29.5.2020)
5.) Delphine de Vigan FR: Nach einer wahren Geschichte ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️(18.05.2020)
4.) Birgit Vanderbeke DE: Muschelessen ⭐️⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (11.03.2020)
3.) Yazmin Reza FR: Glücklich die Glücklichen ⭐️⭐️ Sterne (08.03.2020)
2.) Amelie Nothomb BE: Der japanische Verlobte ⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (25.2.2020)
1.) Natascha Kampusch AT: 3096 Tage ⭐️⭐️⭐️⭐️ (09.01.2020)
Lust oder die Liebhaberinnen, Elfriede Jelinek
Lady Orakel, Margaret Atwood
Vernon Subutex 3, Virgenie Despentes
Landgericht, Ursula Krechel
Erebos, Ursula Poznanski
Macht, Karen Duve
Jessica Durlacher, Die Tochter
Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land
Ingried Brugger, & Bettina M. Bussse: The Cindy Sherman Effect
Bestellte Rezensionsexemplare
15.) Nothomb, Amelie BE: Happy End (currently reading)
14.) Vine, Barbara GB: Astas Tagebuch ⭐️⭐️⭐️(24.06.2020)
13.) Lappert, Simone CH: Wurfschatten ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️(14.06.2020)
12.) Greengrass, Jessie GB: Was wir voneinander wissen ⭐️⭐️,5 (04.06.2020)
11.) Haider, Lydia (Hrsg.) AT: Und wie wir hassen! ⭐️⭐️⭐️⭐️ (29.05.2020)
10.) Borger, Martina DE: Wir holen alles nach ⭐️⭐️⭐️⭐️ (08.05.2020)
9.) Marketa Pilatova CZ: Mit Bat'a im Dschungel ⭐️⭐️⭐️⭐️ (24.4.2020)
8.) Sibylle Berg CH, DE: Nerds - retten die Welt ⭐️⭐️⭐️⭐️ (11.04.2020)
7.) Lucia Leidenfrost AT: Wir verlassenen Kinder ⭐️⭐️⭐️⭐️ (24.3.2020)
6.) Simone Hirth DE, AT: Das Loch ⭐️⭐️⭐️ (19.3.2020)
5.) Elisa Tomaselli AT: Wen kümmert's ⭐️⭐️⭐️⭐️ (15.03.2020)
4.) Angelika Hager AT: Kerls! ⭐️⭐️⭐️ (23.2.2020)
3.) Heidi Emfried AT: Des Träumers Verderben ⭐️⭐️ (12.2.2020)
2.) Natascha Kampusch AT: Cyberneider ⭐️⭐️ (03.02.2020)
1.) Dora Cechova CZ: Ich wollte kein Lenin werden ⭐️⭐️⭐️⭐️ (09.01.2020)
Alena: Hana
Revedin Jana: Margherita
Verena Stauffer: Ousia Gedichte
Evelyn Steinthaler: Happy End für Mrs Robinson,
Petra Piuk, Barbara Filips: Wenn Rot kommt
Barbara Rieger: Friss oder stirb
Ich bin ja seit meiner Autorinnenchallenge ein ausgewiesener Fan von Barbara Vine, die eigentlich Ruth Rendell heißt (beziehungsweise hieß, denn sie ist 2015 verstorben) und die ihre psychologischen Thriller unter diesem Pseudonym verfasste. Die Geschichte – von Thriller war für mich diesmal keine Spur – plätscherte mir aber dann viel zu gemächlich, zu breit ausgewalzt und lang andauernd, gleichsam in Form eines englischen Weinbergschneckenrennens dahin (die gibt’s wirklich, guckt Ihr hier). Bedauerlicherweise kam dabei dann auch öfter Langeweile auf und das ist für mich die erste und zentrale literarische Todsünde.
Dabei ist der Roman in gewohnt sprachlicher Qualität und auch prinzipiell vom Plot her ausgezeichnet konzipiert. Ann Eastbruck erbt beim Tod ihrer Tante Swanney, die sehr erfolgreich als Herausgeberin die Tagebücher ihrer Mutter Asta verlegt hat, sowohl den Familienbesitz, als auch noch nicht veröffentlichte Werke. Von der Gegenwart aus wird in Rückblenden sowohl das Leben der Großmutter Asta, die aus Dänemark nach England emigrierte und einige Anpassungsschwierigkeiten hatte, als auch die ganze Geschichte von Swanney aufgerollt. Dabei mischen sich vor allem drei Handlungsebenen und Zeitstränge: die Originaleinträge aus Astas Tagebuch, Erzählungen über Swanneys Leben und Erinnerungen von Ann zu diesem Thema und zu guter Letzt auch noch die Recherche von Ann in der Gegenwart. Somit wird die ganze Familienbiografie von den Urgroßeltern seit dem Jahr 1905 bis in die Gegenwart episch sehr breit ausgewalzt.
Als zentrale Szene des Romans und eigentliches Thema gilt die Identitätssuche von Astas Lieblingstochter Swanney, die durch einen sehr beleidigenden anonymen Brief darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie möglicherweise nicht die leibliche Tochter ihrer Mutter sein könnte. Asta schweigt zu den Vorhaltungen und bohrenden Fragen ihrer Tochter und ergeht sich in nebulöser Hinhaltetaktik, Ausweichmanövern und genervten Nicht-Antworten, da sie überhaupt nicht verstehen will, warum Swanney, die sich im bereits im reifen Alter von etwa 50 Jahren befindet, unbedingt ihre Wurzeln kennenlernen will. Swanney ist verzweifelt, als ihr das Fundament ihrer Herkunft entzogen wird. Als ihre Mutter stirbt, sucht sie nach Hinweisen für ihre brennende Lebensfrage und entdeckt die Tagebücher, die sie nach dem Tod ihres Mannes und im fortgeschrittenen Alter noch zur erfolgreichen Herausgeberin machen. Leider fehlen im Tagebuch ungefähr sechs Seiten, die irgendjemand herausgerissen hat. Ann spekuliert, dass es Swanney war, die ihre wahre Herkunft nicht ertragen konnte, aber es könnte auch Asta gewesen sein.
Ann macht sich nach dem Tod ihrer Tante erneut auf die bereits erkaltete Spur der ungesicherten Herkunft. Dabei stellen sich viele ungelöste Fragen: Ist Swanney möglicherweise die ungefähr zum Zeitpunkt ihrer Geburt verschwundene Edith Roper und hat Alfred Roper Ediths Mutter umgebracht? Wohin ist Edith verschwunden, lebt sie, oder ist sie auch tot und die Leiche wurde gut beseitigt? Oder hatte Asta gar keine Fehlgeburt, Swanney ist tatsächlich ihre Tochter und sie hat den anonymen Brief selbst geschrieben? Wer hat den Brief überhaupt geschrieben? Diese Fragen werden in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert und leider mit viel zu viel ausladendem Familientratsch und für die Haupthandlung unnötigen biografischen Gschichtln garniert.
Das Ende, das bedauerlicherweise erst nach diesem elendslangen, mehr als fünfhundert Seiten dauernden Plot mit der gesamten, in fast allen Petitessen geschilderten Familienchronik in Sicht ist, überrascht auf den letzten Seiten doch sehr, denn die wahre Geschichte von Astas Tochter ist völlig anders, als die Familienmitglieder bisher geglaubt haben. Als die vermissten Seiten endlich zufällig in der Gegenwart auftauchen, dreht sich die Handlung noch einmal und im Plot kommt erstmals Spannung auf. Diese Wendung kommt aber für die Schnecke viel zu spät, sie ist schon so erschöpft und genervt, dass sie es nicht mehr genießen kann.
Fazit: Eine zu langatmige, zu episch breite Familiengeschichte mit zu viel unnötigem Beiwerk, der eine Kürzung von mindestens zweihundert Seiten und eine Konzentration auf die Haupthandlung, nämlich Swanneys Herkunft, gutgetan hätte. Der Roman ist zwar prinzipiell gut, aber ich hätte gerne bitte viel weniger davon.
Mit dieser sehr dialoglastigen Geschichte, die schon fast ein Theaterstück darstellt, habe ich zwar wieder einmal etwas völlig anderes bekommen, als ich bei der Bestellung vermutet hätte, aber diesmal hat die unerwartete alternative Ausführung sogar mehr Charme als meine ursprünglichen Vorstellungen. Das Paartherapie-Drama hat mir sehr gut gefallen, wenngleich ich, so wie immer, Probleme mit dem Ende eines jeden Buchs von Nick Hornby habe, da der Autor ein gar so schlechter Finisher ist– wenn ich ihn nicht sogar für einen der schlechtesten im Literaturbetrieb halte.
Tom und Louise machen also Paartherapie und das Innovative dabei ist, dass der Autor nicht in den Sitzungen Mäuschen spielt, und diese beschreibt – so wie ich erwartet hätte – sondern nur immer das thematisiert wird, was die beiden Ehepartner vor der Therapie in einer Bar gegenüber besprechen, in der sie sich immer ungefähr eine halbe Stunde – beziehungsweise eigentlich einen Drink lang – davor treffen. Das ist insofern auf mehreren Ebenen charmant, da auch schon Reaktionen auf die letzte Sitzung in die Handlung eingeflochten werden, die beiden auch vor dem Leser ein Mindestmaß an Vertraulichkeit genießen und nur das breitgewalzt wird, was sie voreinander ansprechen, beziehungsweise bearbeiten und weiterentwickeln möchten. Was in der Sitzung war, bleibt in der Sitzung, es sei denn, es wird erörtert.
Damit bekommt die Leserschaft nicht das direkte Drama mit – inklusive der direkten Verletzungen und der Verletzlichkeiten, sondern eine zeitversetzte Reflexion darauf: teilweise Aktionen und Reaktionen, wenn sich die Gemüter schon ein bisschen abgekühlt haben und sich sogar vielleicht beim einen oder anderen etwas selbständig weiterentwickelt hat, manchmal ein völlig belangloser Nebenkriegsschauplatz, auf den ein schwelender Konflikt ziemlich grotesk und wundervoll witzig übertragen wird, aber auch oft ein noch intensiveres Drama und ein eskalierender Streit, weil das Problem der letzten Woche nachträglich noch in der Seele gebrodelt hat und in der einsamen Betrachtung noch mehr hochgekocht ist.
Im Gegensatz zur mangelnden Sorgfalt beim Finish kann kaum jemand eine Geschichte so gut starten wie Hornby. Die Leserschaft wird gleich in die Szene vor der ersten Sitzung geworfen und auf sehr humorvolle Weise mit dem Vorgeplänkel, beziehungsweise mit der Ausgangsproblemstellung konfrontiert: Sie hat ihn betrogen und er will eigentlich keine Therapie machen. Die Dialoge sind trotz des traurigen Themas für einen Außenstehenden extrem witzig konzipiert. Viele, die länger verheiratet sind, kennen bei einiger Selbstreflexion manche Szenen und das Palaver aus eigener Erfahrung nur zu gut. So à la Jedermann und -frau würden es witzig finden, es sei denn, sie sind mittendrin und betroffen. Als Louise und Tom sich am Ende der ersten Szene von der Bar gegenüber dann zum Therapietermin aufmachen und sie klingelt, gibt er Fersengeld und läuft davon – was für eine Eröffnung!
Der männliche Protagonist Tom ist übrigens ganz tiefgründig und aus männlicher Sicht vielleicht ein bisschen respektlos als Mehlwurm konzipiert. So ein passiv-aggressiver Typ, der sich sehr gerne wimmernd und lamentierend in der Opferrolle gegenüber seiner beruflich erfolgreichen Frau eingerichtet hat, sich darin suhlt, zur Dramaqueen mutiert und aus der unterlegenen Position ganz schöne Tiefschläge verteilt. Ein bisschen erinnert er mich an Rob aus High fidelity, aber Tom ist etwas lernfähiger als Rob. Auch Louise ist gut entgegen dem typischen weiblichen Rollenklischee gezeichnet: sehr pragmatisch, so schonungslos ehrlich, dass ihr manchmal nicht auffällt, dass sie auch ganz schön respektlos und verletzend ist, eine Macherin, die Probleme erkennt und dann auf ihre Weise manchmal viel zu schnell mit schlechten Aktionen und Lösungen reagiert, anstatt darüber zu reden.
Bei all den witzigen Dialogen und auf Nebenschauplätze verlegten Gefechten kommt so nach und nach sehr realistisch und konsistent beschrieben etwas Schwung in die Beziehung. Das Paar analysiert den Grund des Betrugs, das Sexproblem und einige andere Baustellen ebenso.
Tja, das Finish ist eben schon, wie gesagt, sehr oft wie bei Hornby abrupt und nicht wirklich in irgendeine Richtung interpretierbar – er lässt quasi die Tastatur fallen. Sitzung 10 fällt aus, weil sich die beiden in der Bar besaufen, und die Therapie absagen. Dabei ist noch viel zu wenig aufgearbeitet und weiterentwickelt, als dass die Ehe meiner Meinung nach weiter funktionieren könnte. Sie kommen überein, dass sie in einer permanenten Ehekrise stecken und sich nicht jahrelang zur Therapie begeben wollen. Da hilft eine zarte Hoffnung und ein „Ich liebe Dich“ von Tom im vorletzten Satz, das Louise als nicht ernstgemeint interpretiert, auch nichts. Versteht mich nicht falsch, Eheprobleme, die sich zur Never-Ending-Story auswachsen, auf siebenhundert Seiten auszuwalzen, ist ebenso weder spannend noch zielführend, aber diese Geschichte ist zu kurz und die beiden sind so weit entfernt von austherapiert oder einem konstruktiven Lösungsansatz, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache. Das wird nix!
Fazit: Szenen einer Ehe pointiert und sehr amüsant präsentiert, die Figuren mit ihren Problemen sehr liebevoll und tief konzipiert, das macht Spaß und ist auch lehrreich für alle Paarbeziehungen, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben. Leider verpufft sowohl die Entwicklung der Ehe als auch das Finale ins komplette Nirvana. 20 Sitzungen wären da mindestens notwendig gewesen – sag nicht nur ich, sondern auch der Verband der Psychotherapeuten ;-) .
Dieser Roman hat mich von der ersten Szene an sofort gepackt, nie mehr losgelassen und schwer begeistert. Ich könnte ein Liebeslied schreiben über die Verbindung zwischen mir und solchen Liebesgeschichten, wie sie auch die Autorin erzählt, die uns zwar sehr viel über Beziehungen beibringen, aber keinen Funken Romantikgefasel aufweisen, denn ich bin eine inbrünstige Romantikhasserin.
Die Autorin wirft die Leser*innen mitten in eine ausgewachsene, super detailliert und extrem realistisch geschilderte Panikattacke der Protagonistin Ada. Ich weiß, wie sich das anfühlt und wovon sie redet, denn ich hatte meine erste mit 22 Jahren an einem Sonntag auf der Autobahn zwischen Ausfahrt Asten und Linz von Wien kommend, fahrend mit 140km/h und Pink Floyds „Shine one you crazy diamond“ im Radiorecorder.
Ada ist eine begabte junge Schauspielerin, die ihr Leben aufgrund ihrer Ängste eher schlecht als recht auf die Reihe bekommt. Durch ihre Panik, die sie davon abhält, beruflich richtig durchzustarten, ihre aufwendigen Rituale, die sie gegen die aufkommende Angst durchspielt und die Vertuschung ihrer Defizite vor ihren besten Freunden, hat sie permanent Geldprobleme, weil sie einerseits zu wenig Geld verdient und sie andererseits auch zu viel Geld ausgeben muss, um irgendwie die Angst niederzukämpfen und Normalität vorzuspielen.
Ada schloss die Augen. Da war sie wieder diese Taucherglocke aus trübem Glas, die sie vom Tag trennte und das Atmen schwer machte. Dieses taumelige Gefühl, wie manche es haben, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen werden und die Bilder im Kopf noch stärker sind als das, was die müden Augen wahrnehmen. Ada hob ihre rechte Hand auf Brusthöhe, hielt sie einen Moment so und schaute sie an: Die Hand zitterte. Und wenn die Hand jetzt schon zitterte, dann würde es nicht mehr lnage dauern, bis die Taucherglocke ihr den Kopf unter Wasser drückte, tief in ihr eigenes Angstwasser hinein.
Durch diesen Teufelskreis schuldet sie ihrem Vermieter Matuschek nun mehrere Monatsmieten. Dieser Matuschek ist auch ein ganz liebevoll geschilderter Charakter, ganz gegensätzlich zu einem Miethai bringt er für die Kalamitäten der jungen Ada doch sehr viel Verständnis auf und er versichert ihr, dass er sich eine Kompromisslösung einfallen lässt, die für beide Seiten erträglich sein wird. Dann passiert etwas, das sich Ada nie hätte träumen lassen, völlig konsterniert stellt sie fest, dass Matuschek seinen Enkel Juri in ihrer Wohnung – respektive in Ihrem ritualisierten Angstzimmer – einquartiert hat.
Ada fühlt sich völlig überrumpelt, in ihrem Leben gestört und ihre Privatsphäre gekapert. Doch Juri stört auch intensiv ihre Angst. Welche Analogie! Er ist ja auch in ihrem Panikzimmer eingezogen, in dem sie alle ihre potenziellen Ängste aufgeklebt hat, indem er es ganz unkompliziert in Besitz nimmt, es mit seiner eigenen Persönlichkeit füllt, die Zettel einfach von der Wand nimmt und diese wegwirft. Sonst ist er ein äußerst angenehmer Wohngemeinschaftsgenosse, sensibel, freigiebig, etwas still und nicht übergriffig, einer, mit dem man leicht auskommen kann, weil er nicht stört und auch sonst eher leise ist. Nach und nach nähert sich Ada einerseits Juri an, andererseits will sie aus der Situation flüchten, indem sie sich in einer anderen Stadt, nämlich in München, für ein Engagement bewerben will. Leider schlägt die Panik wieder zu und vernichtet sowohl ihren beruflichen Aufstieg als auch ihren Umzug.
Nach und nach nähern die beiden sich immer weiter an, in wundervollen, total unkitschigen Szenen wird eine Freundschaft geschildert, die sich recht gemächlich in eine zart aufkeimende Liebe verwandelt: nächtelange Gespräche, Ada bringt Juri das Fahrradfahren bei und wie man Schlaflosigkeit bekämpft, Juri bringt Ada bei, wie man einen Fehlkauf rückgängig machen kann und das Geld zurückbekommt, Ada bemerkt erste Eifersuchtsgefühle, als sie eine Affäre Juris in der Wohnung kennenlernt, Juri begleitet Ada ins Krankenhaus, als sie eine Panikattacke bekommt und ahnt somit als erste Person ihres Lebens etwas von Adas enormen Problemen. Das ist dann auch der Punkt, an dem Ada Juri zurückstößt, da er ihr zu nahe gekommen ist. Nach noch ein paar Wendungen, Missverständnissen und Problemen gibt es auch noch ein ganz leises, wundervolles aber eben unromantisches Happy End – eigentlich ja nur einen kleinen Neuanfang, sonst wärs ja wieder kitschig, denn dieses „Liebe heilt alles“-Gewäsch hasse ich ja noch inbrünstiger als die romantische Gefühlsduselei. Den erwähnten Neuanfang gibt es übrigens nicht nur für Juri und Ada sondern auch für Adas Freundin Maria und dem Opa Matuschek, der in die rassige Maria schon ewig verschossen war, auch seine Angst überwunden und endlich einen Vorstoß gewagt hat, die Initiative zu ergreifen.
Fazit: Eine grandiose leise Geschichte über Ängste, Probleme, Nähe, Freundschaft, Liebe und den Mut, alle Hindernisse überwinden zu wollen.
Vordergründig ist das Theaterstück von Schnitzler eine Art Grey's Anatomy um die Jahrundertwende aber ohne Sex. Viele männliche Ärzte auf unterschiedlichen Stufen (Institutsleiter der unterschiedlichen Abteilungen des Krankenhauses von Pathologie über Inneres und Gyn, Oberärzte, Fachärzte und Turnusärzte, die ihre Dissertation noch nicht fertig haben) parlieren, tratschen, schwurbeln, kriechen einander in den Arsch und intrigieren hinter dem Rücken.
Krankenhausalltag also, der durch einen spezifischen Fall zu einem politischen Drama hochstilisiert wird, als eine junge katholische Frau, die wahrscheinlich bei einer Engelmacherin war, an einer Sepsis so ernsthaft erkrankt ist, dass sie in den nächsten Stunden sterben wird. Durch das Fieber spürt sie aber den nahenden Tod nicht und glaubt zu genesen. Die nicht konfessionelle Krankenschwester holt ob der dramatischen Situation den Priester für die letzte Beichte und die letzte Ölung, der jüdische Institutsleiter Professor Bernhardi verweigert ihm aber den Zutritt, denn er will die euphorische Patientin nicht der Todesangst aussetzen, sondern als pragmatischer Arzt ist im wichtig, dass es der Patientin gut geht, bevor sie stirbt, anstatt die unsterbliche Seele der Sünderin für den lieben Gott zu retten. Da sich der Priester beschwert, wird diese Petitesse zum Politikum hochstilisiert, indem antisemitische Vorurteile auf den Professor niederprasseln, der als Jude die katholischen Notwendigkeiten verachtet und Religionsstörung betreibt.
In der vom Professor gegründeten Klinik hat er in seiner Funktion als Direktor mittlerweile die Bestellung von sehr vielen nicht-jüdische Ärzten abgenickt, die politisch das Spektrum von liberal bis deutschnational und massiv antisemitsch abdecken. Professor Bernhardi ist politisch völlig naiv und untalentiert, für ihn zählen nur die Sicht der Fachqualifikation des Arztes und ärztliche Entscheidungskriterien.
Neben mehreren Intrigen intern geht die Angelegenheit ins Gesundheitsministerium, wo Bernhardi auch auf Beamte bzw. Politiker als Beamte trifft, die nur ihre Karriere im Fokus haben und wie Wendehälse heute ihre eigentlichen Überzeugungen vertreten, aber morgen diese auf dem Altar der politischen Anbiederung und Koalitionsbildungen opfern. Der Professor glaubt den Beteuerungen dieser Beamten und agiert als Arzt und als Mensch so, als wäre er von Antisemitismus nicht betroffen, quasi als wäre er kein Jude, oder als gäbe es keinen Antisemitismus. Er verkörpert daher genau jene Figur und den Prototyp, den alle politischen Liberalen und die bürgerlichen Parteien in der Mitte lauthals fordern, die sagen, dass die Juden einen nicht-existenten Antisemitismus aus Paranoia herbeireden und sich ständig als Opfer fühlen. (siehe Der Weg ins Freie )
Mit dieser von allen Juden verlangten Stategie scheitert Bernhardi aber episch. Die Petitesse wird vors Parlament gebracht und von einer Appellation in eine Anklage umgewandelt. Bei der Gerichtsverhandlung lügen einige der an der Szene Beiteiligten, dass sich die Balken biegen, Entlastungszeugen werden auch korrumpiert und schweigen. Mittlerweile soll der Herr Professor sogar den Priester angegriffen haben. Schließlich wird Bernhardi als Direktor seines eigenen Institus von einem Antisemiten abgelöst, seine Approbation wird im vorläufig entzogen und er muss für ein paar Monate ins Gefängnis, obwohl wirklich alle wissen, dass er unschuldig ist. Er wird auf dem politischen Parkett geopfert, gerade weil er starrsinnig auf seinem Bürgerrecht beharrt, in die staatlichen Institutionen und in die Menschen vertraut, dass sich seine Unschuld herausstellen wird.
Er ist auf dem rassistischen Auge blind und will sich nicht ducken, was natürlich küger wäre. Insofern ist er der tragische halsstarrige Held, der unbeirrt seinen Weg geht und der letztendlich dafür bestraft wird. Aber die Geschichte spielt ja im K&K Zuckerguss-Österreich und auch die Bestrafung und der Antisemitismus sind nicht so dramatisch - typisch österreichisch inkonsequent. Nach ein paar Monaten Gefängnis, der Rückgabe der Approbation und der wahrscheinlichen Wiedereinsetzung als Institutsleiter haben sich alle wieder recht lieb und parlieren amikal miteinander. Alles Gut! Es lebe der Kaiser!
Abgesehen vom nicht unspannenden Plot war dieses verbale Gebuckel, Geschmeichel und um den heißen Brei Herumgeschwurbel in den Dialogen sehr schwer zu ertragen und lähmte die ganze Geschichte ziemlich. Ich spreche hier nicht von einer alten Sprache, sondern von diesem vertraulichen,, fraternisierenden, katzbuckelnden, amikalen Spezi-Ton, den die Ärzte und die Politiker miteinander zelebrieren. Wahrscheinlich gibt es den bis heute in den Parteizentralen, aber der nervte mich ungemein und machte die Handlung zäh wie Strudelteig. Befreit man manche Dialoge aber vom inflationär eingesetzten Beiwerk der fortlaufenden Schmeichelei, dann waren einige wirklich großes Kino.
So sagt der Politiker:
"Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich's weiter zu überlegen, anfing', das Richtige zu tun und so in einem for den ganzen Tag lang das Richtige, so säße man sicher noch vorm Nachtmahl im Kriminal!"
Die angeschlossenen 60 Seiten Nachwort und Erläuterungen waren fast spannender als das Theaterstück selbst und drehen für mich das Werk noch von 2,5 auf gute 3 Sterne. Sie gaben einen großartigen Blick in den Hintergrund und eine detaillierte Analsyse der Situation der Wiener Krankenhäuser und der Medizin zu dieser Zeit. Es wird thematisiert, welche Kliniken hier gemeint sein könnten (die Analyse macht eine Kombination zwischen Poliklinik und einem anderen Krankenhaus aus), aber sie gab auch sensationelle Einblicke in die ärzliche Klinikpraxis dieser Zeit. Die Wissenschaft und die Krankenhäuser fokussierten sich anstatt auf therapeutische und hygienische Ansätze auf diagnostische Methoden, aber mangels großflächigem Einsatz von bildgebenden Verfahren war eine Diagnose ja nur ex-post also nach der Sektion möglich. Die Wahrscheinlichkeit, damals bei einer Krankheit zu überleben, war auf einer Pflegestation wesentlich höher als in einem Krankenhaus, in dem die Herrn Professoren nur darauf warteten, dass die Patienten starben, damit sie die Ursache herausfinden konnten. Zudem hielten die damaligen Ärzte auch wenig von den damals schon bekannten Hygiene-Maßnahmen. Das machte mich auf einige Kleinigkeiten aufmerksam, die ich ansonsten überlesen hätte. Auch im Theaterstück kommen viele von den Doktoren direkt aus dem Seziersaal hoch und keiner hat sich die Hände gewaschen. Ziemlich wahrscheinlich, dass die junge Frau die Sepsis erst durch die Untersuchung von einem Arzt bekommen hat.
Zudem wird die politische Situation der K&K Monarchie ausnehmend grandios analysiert. Antisemitismus den es qua Gesetz eigentlich gar nicht geben darf, weil ihn der Kaiser verboten hat, der sich aber strukturell durch alle Institutionen und durch das tägliche Leben zieht. Kommt uns bekannt vor oder, denn Antisemitismus ist genau dasselbe wie der heutige strukturelle Rassismus gegenüber PoCs?
Fazit: Theaterstück unterdurchschnittlich aber mit der Erläuterung kommt noch was Gutes dabei heraus, da bekommt der Stoff gleich neue spannende Aspekte. Mir hat das Nachwort wesentlich besser gefallen als das Werk selbst.
Es ist schon eine Kunst, wenn ein Autor einer sehr verstaubten Novelle, die ja schließlich die Moralvorstellungen nicht vom letzten sondern vom vorletzten Jahrhundert vertritt, diese so zu konzipieren vermag, dass die Nöte der Protagonistin, die auf Grund dieser Moral entstehen, so konsistent und genial vermittelt werden, dass wir sie auch heute noch nachvollziehen zu vermögen.
Zudem ist Fräulein Else wie schon der Leutnant Gustl stilistisch in Form eines ziemlich genialen inneren Monologs konzipiert. Man bedenke, dass diese Erzählform von Schnitzler VOR dem meiner nach total überschätzten James Joyce weitaus brillianter eingeführt wurde, da Schnitzlers Monologe erstens angenehmst kürzer, und viel tiefgängiger als jene des Ulysses verfassst wurden, die ja im Gegensatz zu Schnitzler keine substantiellen Probleme der Protagonisten sondern nur nichtiges Geschwätz beinhalten. Die Novellen von Leutnant Gustl und Fräulein Else stellen für mich ohnehin die Highlights aus Schnitzlers Werk dar, obwohl mir ein paar Theaterstücke und die Traumnovelle auch ganz gut gefallen haben.
Aber nun zum Inhalt:
Schnitzler wirft die Leserschaft in die Welt einer glorreichen Fassade hinter der alles verrottet ist. Das junge schöne Fräulein Else ist mit der guten Gesellschaft in der Sommerfrische im Ausland und bekommt einen unangehmen Expressbrief von Mama. Der Herr Papa hat Gelder von Mündeln veruntreut und gestohlen. Wenn sie nicht bis morgen 30.000 Gulden vom unsympathischen Herrn Dorsday bekommt, muss Papa ins Gefängnis. Bald stellt sich heraus, was der schmierige Herr Dorsday von dem 19-jährigen Mädl, das außer Schwärmereien noch gar keine sexuellen Erfahrungen hatte, verlangt. Sie soll sich um Mitternacht mit ihm im Wald treffen und sich ihm splitternackt präsentieren. Zwar schwört der alte Wüstling Stein und Bein, von ihr sonst nichts weiter zu verlangen, aber so einer Situation alleine mitten in der Nacht im Wald würde ich mich nicht einmal heutzutage aussetzen, aus Sorge, vergewaltigt zu werden.
In ihrem inneren Monolog wälzt die junge unerfahrene Else ihre Probleme und denkt sogar daran, sich das Leben zu nehmen. Ist auch glaubwürdig, dass sie mit dem Tod kokettiert, wenn sie sich für die Ehre des Herrn Papa ihren Körper an den Herrn Dorsday verschachern muss und sich eben im Gegenzug zur Rettung des Vaters der lebenslangen Schande aussetzen muss und sich opfern sollte. Schlussendlich fordert der Vater in einer zweiten Depesche fast doppelt so viel Geld, also wird sie auch mehr geben müssen. Zudem ist sie ja mit 19 Jahren noch Jungfrau, da würde ich in der Situation und unter diesem enormen Druck auch mal an Schlaftabletten denken
Was für ein Arschloch von Papa, so etwas außerdem nicht einmal selbst zu erbitten, sondern dies indirekt über die sehr naive Mutter, die die Schuldkeule schwingt, zu verlangen. Anstatt dass der Vater für sein Versagen und für seine Taten geradesteht und die Schande des Diebstahls und des Gefängnisses annimmt, soll sich Else einer ganz anderen Schande opfern. So zahlen die Kinder die Schulden der Eltern. Else fragt sich zu Recht, warum eigentlich sie die Fehler des Vaters ausbaden soll und dem geilen Bock von Geldgeber zu Willen sein muss. Das Mädchen wäre lebenslang ruiniert, gesellschaftlich wie finanziell, denn Arbeit geht nicht, sie hat ja nix Gscheites gelernt und Ehe ist danach auch nicht mehr möglich, wenn sich der Dorsday im Wald am Mädl vergreift, denn er hat ja für die Nutte ordentlich bezahlt. Sie wird ohne eigentlich ursprünglich involviert zu sein, zwischen den beiden fordernden Männern und den gesellschaftlichen Konventionen zermalmt. Immer wieder konzipiert sie im Kopf Fluchtwege und Notausgänge aus dieser Situation.
Sehenden Auges wird auch eine andere Dramatik offenbar, denn der Vater ist ja nicht einzigartig und zufällig in einer derartigen Notlage, sondern die hoffnungslose Spielsucht des Papas und deren jahrelange und stetige Vertuschung mit den Auswirkungen wie Unterschlagung und Diebstahl hat auf die öffentliche Offenbarung der Schande der Familie ja nur eine kurze, aufschiebende Wirkung. Der Kater lässt trotz aller Beteuerungen das Mausen (das Spielen und das Prassen) nicht.
Letztendlich scheitert jeder Notausgang und Else opfert sich völlig unnotwendig einem verantwortungslosen Vater, einem geilen Bock und den gesellschaftlichen Konventionen, indem sie sich umbringt. Sie hat im Fieberwahn der Ausweglosigkeit das Versprechen eingelöst, sich nicht nur Herrn Dorsday, sondern der gesamten Gesellschaft nackt gezeigt und sich dann ob der Schande mit Veronal vergiftet. Na hoffentlich hat der Herr Papa wenigstens das Scheiß-Blutgeld bekommen und einen Aufschub seiner Schande erhalten, denn Else hat ihr Wort gehalten und die 50.000 Gulden redlich für die Familie verdient. Wenn sie auch diese Peinlichkeit nicht ertragen konnte und sich entleibt hat. Was für ein tragisches Opfer, das Else in den letzten Sekunden ihres Lebens auch noch bereut!
Fazit: Ein zeitloser Klassiker, der auch heute noch gut zu lesen und zu verstehen ist. Nicht deshalb, weil wir so etwas ohnehin heute auch noch verstehen können, sondern weil uns Schnitzler die Nöte und Ängste des Mädches derart nahezubringen vermag, dass das Mitfühlen und Verstehen ganz einfach gelingt.
Hallo meine Lieben!
Der Mai war wieder geprägt von vielen Büchern und großartigen Autorinnen, aber auch von einigen Enttäuschungen. 5 Bücher von Schriftstellerinnen konnte ich in diesem Monat lesen und rezensieren bei einem Buch fehlt noch die Review.
Meine Wunschliste und der grobe Leseplan das meiste von meinem SUB
6.) Lilian Faschinger: Die neue Scheherazade ⭐️⭐️,5 Sterne (29.5.2020)
5.) Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️(18.05.2020)
4.) Birgit Vanderbeke: Muschelessen ⭐️⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (11.03.2020)
3.) Yazmin Reza: Glücklich die Glücklichen ⭐️⭐️ Sterne (08.03.2020)
2.) Amelie Nothomb: Der japanische Verlobte ⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (25.2.2020)
1.) Natascha Kampusch: 3096 Tage ⭐️⭐️⭐️⭐️ (09.01.2020)
Lust oder die Liebhaberinnen, Elfriede Jelinek
Lady Orakel, Margaret Atwood
Vernon Subutex 3, Virgenie Despentes
Zehn, Franka Potente
Landgericht, Ursula Krechel
Erebos, Ursula Poznanski
Macht, Karen Duve
Christine Nöstlinger, Maikäfer flieg
Jessica Durlacher, Die Tochter
Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land
Ingried Brugger, & Bettina M. Bussse: The Cindy Sherman Effect
Bestellte Rezensionsexemplare
14.) Vine, Barbara: Astas Tagebuch (currently reading)
13.) Lappert, Simone: Wurfschatten (currently reading)
12.) Greengrass, Jessie: Was wir voneinander wissen ⭐️⭐️,5 (04.06.2020)
11.) Haider, Lydia(Hrsg.): Und wie wir hassen! ⭐️⭐️⭐️⭐️ (29.05.2020)
10.) Borger, Martina: Wir holen alles nach ⭐️⭐️⭐️⭐️ (08.05.2020)
9.) Marketa Pilatova: Mit Bat'a im Dschungel ⭐️⭐️⭐️⭐️ (24.4.2020)
8.) Sibylle Berg: Nerds - retten die Welt ⭐️⭐️⭐️⭐️ (11.04.2020)
7.) Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder ⭐️⭐️⭐️⭐️ (24.3.2020)
6.) Simone Hirth: Das Loch ⭐️⭐️⭐️ (19.3.2020)
5.) Elisa Tomaselli: Wen kümmert's ⭐️⭐️⭐️⭐️ (15.03.2020)
4.) Angelika Hager: Kerls! ⭐️⭐️⭐️ (23.2.2020)
3.) Heidi Emfried: Des Träumers Verderben ⭐️⭐️ (12.2.2020)
2.) Natascha Kampusch: Cyberneider ⭐️⭐️ (03.02.2020)
1.) Dora Cechova: Ich wollte kein Lenin werden ⭐️⭐️⭐️⭐️ (09.01.2020)
Verena Stauffer: Ousia Gedichte
Mornštajnová Alena: Hana
Revedin Jana: Margherita
Happy End für Mrs Robinson, Evelyn Steinthaler
Nothomb, Amélie: Happy End
Petra Piuk, Barbara Filips: Wenn Rot kommt
Barbara Rieger: Friss oder stirb
So überhaupt nicht erfreut war ich von diesem durch renommierte britische Literaturpreise ausgezeichneten Werk. In all den Szenen, Geschichten, Zeilen und Seiten verspürte ich nicht mal irgendwie und zu irgendeinem Zeitpunkt annähernd einen Funken von lauwarm. Für mich fehlten der Flow, der Zusammenhang der stilistischen Mittel und die Konsistenz des Romans.
Das beginnt damit, dass die zu Beginn von der Autorin präsentierte Sprachfabulierkunst und einfühlsame Beschreibung von Ereignissen mit jeder weiteren Seite so exzessiv und inflationär zelebriert werden, dass sie für mich in eine richtiggehende Überperformance im Methaphernschwängern der Szenen ausartet. Zuviel Blumiges und mit unzähligen Adjektiven Beschreibendes ist eine stilistische Überdosis, die ein gut gewürztes Werk ins Giftige abgleiten lässt. (Huch jetzt habe ichs auch gerade getan )
Zurück zur Handlung: Die Hauptdarstellerin hat Angst, ihren Kinderwunsch zu verwirklichen und erinnert sich an den tragischen Tod ihrer Mutter, der in einer gut geschilderten Sterbeszene beschrieben wird. Zudem existiert – völlig von der Handlung losgekoppelt – der Biografie-Erzählstrang des Wissenschaftlers Röntgen, der überhaupt keinen Bezug zur eigentlichen Story aufweist, er wirkt wie ein unangenehmer Fremdkörper im Buch. Bevor die Leserschaft schon fast das ganze Leben von Röntgen erfahren hat, kommt kein irgendwie gearteter Konnex zwischen der Protagonistin und der Biografie des Wissenschaftlers auf. Erst auf Seite 61 wird erstmals erwähnt, was die Autorin uns offenbar mit diesem extrem schwachen Bezug sagen will. Die Ich-Erzählerin hat vor einem MRT Panik und lenkt sich mit dem Lesen der Geschichte von Röntgen vor dieser Angst ab. Das war es aber schon mit den Wissenschaftsbezügen zur Protagonistin, der erste eingestreute Handlungsstrang ist so steif wie die geröntgten Knochen. (uups I did it again)
Im zweiten Teil der Rückblenden mit einer weiteren drübergestreuselten Lebensgeschichte von Sigmund Freud bleibt diese wieder ein Fremdkörper im Roman. Zugegeben, die Beziehung von Freud zu seiner Tochter Anna könnte marginal etwas mit der Familiengeschichte der Hauptfigur zu tun haben, aber die Gemeinsamkeiten werden nur nebeneinandergestellt, weder verzahnt noch in Bezug zueinander gesetzt. Nie reflektiert die Autorin, was ihre eingefügten Biografien denn so mit den geschilderten Figuren zu tun haben könnten. Den Kontext muss sich der Leser selbst aus den Fingern saugen. Das irritierte mich zunehmend, denn ich habe Probleme damit, wenn ich mir aus unzusammenhängenden Versatzstücken selbst eine Geschichte zusammenbasteln muss. Das ist für mich Aufgabe des Autors und Erzählers und kann zumindest für mich, als literarische Realistin, nicht komplett an die Leserschaft outgesourct werden. Mitdenken ja, aber nicht ohne jeden Hinweis. Denn dann bleiben die servierten Häppchen total unverbunden.
Was ich mir letztendlich zusammengereimt habe, ist folgendes: Die selbstbestimmte autonome Mutter-Kind-Beziehung seitens des Kindes, wie sie in der Familie der Ich-Erzählerin gelebt und in Rückblenden geschildert wird, steht im Gegensatz zur symbiotischen Eltern-Kind-Beziehung, die Freud zu seiner Tochter Anna pflegte und die die Entwicklung von Anna Freud zu einer selbständigen Persönlichkeit verhinderte. Die Protagonistin sorgt sich neben all ihren anderen Ängsten um die Erziehung ihrer Tochter und schildert ihre Probleme mit dem Loslassen des Kleinkindes, um ihm die in der Familie übliche Autonomie einzuräumen. Dieses Thema wird auch in der Psychologie und in der Pädagogik kontrovers diskutiert, vor allem heutzutage in der Ausprägung Helikoptereltern. Doch ich habe nicht mal den Hauch eines Fingerzeigs, ob ich richtig liege, denn die Autorin versagt mir ja sogar den Hinweis, ob die Großmutter der Protagonistin als Psychotherapeutin den Theorien Freuds, Jungs oder einer anderen Schule folgte. Aber wie gesagt, ich habe keine Ahnung, ob ich auf der richtigen Spur bin.
Im dritten Abschnitt ist die Hauptfigur erneut schwanger und leidet sehr unter den körperlichen Einschränkungen. Die analoge Wissenschaftsbiografie dazu ist jene der Anatomen und Gebrüder Hunter. Es tut mir leid, aber in diesem Teil des Romans hatte ich dann schon die Lust verloren, mir irgendeinen Bezug zum Leben der Protagonistin an den Haaren herbeizuziehen, aus den Fingern zu saugen und zusammenzufantasieren.
Versteht mich nicht falsch, das Leben einer Familie zu zeigen und dann in Einschüben von Wissenschaftlerbiografien darzulegen, was die Protagonisten von den berühmten Intellektuellen, ihren Thesen und ihrem Leben lernen können, fände ich ein äußerst charmantes Konzept, inhaltlich wie stilistisch. Eigentlich war das auch exakt jener Roman, den ich beim Lesen des Klappentextes erwartet hätte. Wenn in der Geschichte aber keine Brücke und keine Verbindung zwischen den Handlungssträngen, zwischen Wissenschaft und Fiktion geschlagen werden, bleibt das Ganze sinn- und leblos – nebeneinander gereihte, sich nicht tangierende Fremdkörper oder eben auch zwei getrennt voneinander erzählte Geschichten, die in einem Buch einfach nicht zusammenpassen. Und das war dann lesetechnisch und auch intellektuell extrem unbefriedigend für mich.
Fazit: Überhaupt nicht mein Roman!
Ohje dieser Roman von Lilian Faschinger befand sich so gar nicht in meiner Komfortzone. Die Protagonistin Scheherazade Hedwig Moser, halb Kärnterin halb eine andere Mischung aus Perserin und Kurdin sitzt auf ihrer Couch, spinitisert so in Gedanken dahin, erzählt ihre Familiengeschichte und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. So weit, so gut, normalerweise ein Konzept mit dem ich sehr gut etwas anfangen kann. Hat mir Doch schon ein weiterer Roman von Faschinger Magdalena Sünderin, der ähnlich angelegt ist, ausnehmend gut gefallen.
Bedauerlicherweise sind die Parallelen aber für mich nicht deutlich, beziehungsweise könnte es sein, dass die Autorin in diesem Roman, ihrem Debüt, noch ein bisschen üben musste, beziehungsweise sich vergallopiert hat und sich nicht zentrieren konnte. Mir kam die ganze Geschichte so surreal vor wie ein schräger Film Noir mit derart vielen mystischen Elementen aus tausendundeiner Nacht, dass es für mich nur wirre Hirngespinste und Kopfgeburten eines sprunghaften Geistes ergab. Ich mag ja schräg und surreal sehr, aber schräg, surreal, mystisch und wirr ist mir dann viel zuviel. So etwas kannte ich bisher nur von Osteuropäischen Autorinnen: Renata Šerelytė,
Gabriela Adameșteanu und Zsuzsa Selyem pflegen auch so einen Erzählstil. Der ist eben wie gesagt, sehr viel weiter von meiner Komfortzone entfernt, als es mir lieb ist und ich habe dann immer keine Ahnung, welchen Sinn die Geschichte ergeben soll. Da stehe ich einfach zu sehr mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität, dass mir so etwas gefallen könnte, da wird mir schwindelig.
Um den Stil zu untermauern, werde ich Euch wieder einmal eine der komischsten Szenen (nicht im Sinne von witzig sondern im Sinne von verwirrend und strange) schildern.
Eine Schauspielerin zerrt in einem Film von Polanski einen Embryo in einem Sack durch die Kärtnerstraße, der von Schritt zu schritt weiter wächst und immer größer wird. Die Protagonistin trifft die Mimin in einem Wiener-Cafe mit dem Sack, der mittlerweile schon 20 Kilogramm wiegt und den sie zur Probe für den Film durch die Gegend zerrt, um ihre Fitness und Bereitschaft für die Rolle zu demonstrieren und zu üben. Die beiden Frauen unterhalten an der Bar ein bisschen miteinander. Dann trifft Polanski in Person im Cafe ein und es kommt raus, dass die Schauspielerin als 14-jähriges Mädchen Polanski bei einer Orgie kennengelernt und sich beim Sex in ihn verliebt hat. Seitdem ist sie ihm hörig und will alles für ihn tun, aber Polanski ist diese aufopfernde Ergebenheit etwas peinlich, zumindest vor der Protagonistin. Schnitt nächste surreale Szene, die irgendetwas mit der Tante der Hauptfigur zu tun hat. Irre!!!
Dann hat mich auch noch etwas sehr geärgert, aber vielleicht habe ich etwas missverstanden. Eigentlich schätze ich die Autorin als sehr feministisch ein, aber diese Vergewaltigungsfantasien mit Clint Eastwood kann ich überhaupt nicht verstehen. Soll das Ironie sein, oder was zum Teufel ist denn das? Zu so einer Aussage fehlt mir das Abstraktionsvermögen.
"Es war eine formvollendete, professionelle Vergewaltigung. [...]
Hätte ich gewußt, wie schön eine Vergewaltigung sein kann, Inquistor, dann hätte ich mich schon vorher in Situationen begeben, die eine solche ermöglicht hätten. Ich wäre spätabends durch Straßenunterführungen gegangen, wo meine Schritte gehallt hätten, wo die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unhold auf mich gewartet hätte, sehr hoch gewesen wäre. Ich wäre per Anhalter durch die Mandschurei gefahren [...]
Lassen Sie mich fortfahren.: Clint und ich ritten also langsam weiter, in den Feldern Stellen mit niedergedrückten Maispflanzen hinterlassend. Er erzählte mir aus seinem abenteuerlichen Leben; er gestand, schon mit dreizehn Jahren zum ersten Mal eine Frau vergewaltigt zu haben und ermutigt durch deutliche Anzeichen von Entzücken seitens der Frau, bei diesem Steckenpferd geblieben zu sein.
[...]Daß jede Frau sich nach einer gekonnten Vergewaltigung sehnt, darf man als gegeben annehmen. Mich schmerzt nichts mehr als von ihren Freunden, ihren Ehemännern, ihren Liebhabern nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit und Konzequenz behandelte, zimperliche Frauen sehen zu müssen."
Mir ist das einfach viel zu Meta und vielleicht brauche ich eine Enigma-Maschine, um das ganze zu entschlüsseln, vor allem, weil die vergewaltigte Protagonistin dann auch noch völlig fasziniert und verliebt mit Clint zusammenbleiben möchte, was nur bis zu diesem Zeitpunkt funktioniert, bis sich Clint in eine ganz biedere Frau aus ihrem Dorf verliebt und ein braver, treuer spießiger Ehemann wird.
Fazit: So surreal und Meta von Meta, dass ich es nicht verstanden habe. Vielleicht kann mir mal jemand mit Hang zu solcher Literatur verklickern, worum es geht, was das aussagen will und wohin das führen soll.
Wie kann frau an das Thema Hass im Netz herangehen? Da kann zum Beispiel seitenlang über die Hassbotschaften, denen Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, vor allem digital permanent ausgesetzt sind, lamentiert und anschließend analysiert werden, warum die Situation eben so ist, wie sie ist. Oder frau wählt eine innovative Herangehensweise wie die Herausgeberin Lydia Haider, die sich ein sehr spannendes, neues Konzept für ihr Buch vorgenommen hat, indem sie einmal ausnahmsweise Frauen eine Bühne bietet, all ihren Hass in die Welt hinauszukotzen. Das kann natürlich auch in die Hose gehen, indem das Ganze vom Niveau sehr primitiv und tief angelegt ist, aber wenn für die 15 geplanten Hetzreden ganz kluge, kompetente und des Schreibens mächtige Künstlerinnen für so ein Projekt eingeladen werden, schaut die Sache schon wieder völlig anders aus. Deshalb meine ich und sage es ganz unverblümt, dieses Hassbuch hat die Welt auf jeden Fall dringend gebraucht.
Lydia Haider sagte selbst in einem Interview zu diesem Buchkonzept:
Die Hassrede ist vor einigen Jahren zu einer meiner schreiberischen „Spezialitäten“ geworden – seit damals schwebte mir auch vor, hierzu ebenso befähigte Frauen mit deren Hassreden in einem Buch oder bei Veranstaltungen zu versammeln. […]
Obwohl das etwas ist, von dem die Rechte und vor allem Männer glauben, dieser Bereich würde ihnen gehören. Nur ist das nicht so. Und nun gibt es Widerstand aus allen erdenklichen Richtungen.
[…] Es liegt mir fern, den Sinn des Hassens allgemein zu bewerten. In der Literatur, in meinen Texten widme ich mich dem Hass, da er in der Gegenwart überpräsent und zeitgleich in die falschen Hände geraten ist. Was so im Zentrum der Gesellschaft steht und die Menschen so bewegt – in eine sichtlich falsche Richtung – muss aufgegriffen, zigfach umgearbeitet und das Ruder damit herumgerissen werden.
Deshalb legte Lydia Haider den Hass in die Hände von schriftstellerischen und feministischen Kapazundern wie Raphaela Edelbauer, Sibylle Berg, Gertraud Klemm, Stefanie Sargnagel und viele andere mehr und forderte sie auf, eine Hetzrede zu verfassen. Jede dieser Künstlerinnen ging völlig anders mit der gestellten Aufgabe um und das ist wirklich extrem spannend.
Das Buch bietet eine größtmögliche Bandbreite an Hass auf höchstem Niveau: Übertriebenes und/oder ins Ironische Gebrochenes genauso wie erzählende Texte, aber auch Ernsthaftes. Ohne Grenzen, ohne Themenbegrenzungen, ohne Machogesten.
Am besten haben mir fünf Herangehensweisen an das Thema gefallen.
Da schmettert beispielsweise Sophia Süßmilch, eine deutsche Multimediakünstlerin, der Leserschaft eine vollständige Liste aller Dinge, die sie hasst, gar köstlich ironisch aufbereitet, entgegen. Das geht von Salzburg über Frankfurt über Yoga, BHs, Hoden, Achtsamkeit, Psychoanalyse, Doppelnamen, Kartoffeln, After Eight, gekippte Fenster, Pizza Hawaii, dreckige Lichtschalter bis hin zu Kindern.
Ich hasse Salzburg.
Wenn ein wirklich schlechter LSD-Trip und die schlimmste Winterdepression, die du dir vorstellen kannst, miteinander ein Kind bekommen würden, es würde Salzburg dabei herauskommen, das Disneyland für Heimatkundler.Ich hasse Gesellschaftsspiele.
Bumsen mit starken Regelschmerzen, die Steuererklärung machen, einen nassen Sandsack die Treppe hochtragen, Babys beim Schreien zuhören, nach Salzburg zum Sterben fahren … All das ist im Zweifelsfall sinnvoller und macht wesentlich mehr Spaß als Brettspiele.
Oder Raphaela Edelbauer schrieb vor 7 Jahren an eine Literaturjury eine Rede, warum und wie sie sich nicht dem Fräuleinwunder-Diktat, dem sich junge Autorinnen zu unterwerfen haben, wenn sie erfolgreich sein und Preise gewinnen wollen, unterordnen kann. Nun hat sie es ja irgendwie trotzdem in den Hauptpavillon der Frankfurter Buchmesse geschafft und ein paar Preise eingeheimst. Deshalb richtet sie uns am Ende dafür eine Entschuldigung aus und kann sich nicht erklären, wie das zugegangen ist.
Sibylle Berg schreibt eine gruselig verstörende Geschichte über ihren Sohn, der sich von einem lieben Kind durch den Fußball und die Gesellschaft, in die er sich auf dem Fußballplatz begeben hat, zu einer Person entwickelt, die sie nicht mal mehr als ihr Kind akzeptieren kann.
Die Rechtsextremismusexpertin, Literatur- und Politikwissenschaflerin Judith Goetz kotzt sich in ihrem Pamphlet über Männerbünde und schlagende Studentenverbindungen aus. Das ist auch extrem köstlich und Hass auf höchstem Niveau. Die Schriftstellerin Gertraud Klemm schildert sehr humorvoll vier Zumutungen, die ihr so in ihrem Leben widerfahren sind, beziehungsweise permanent auftreten.
Bei so einer Vielfalt an Zugängen zu diesem Thema gibt es natürlich auch Passagen, die mir nicht ganz so gut gefallen haben. Für mich persönlich, die mit Lyrik nicht so viel am Hut hat, waren es beispielsweise die Gedichte der Aktionskünstlerin Ebow, aber so hat natürlich jeder andere ganz spezifische Vorlieben. Genau das ist jedoch das Schöne an diesem Werk: die Breite und Variationen des literarischen Angebots zu diesem Thema.
Ach ja, sehr hilfreich waren die Kurzbiografien am Ende des Buches, die mir mehr über jene Autorinnen verrieten, die ich bis dato noch nicht gekannt habe. Sehr wohltuend habe ich auch empfunden, dass sich die Herausgeberin Lydia Haider ganz bewusst nicht in den Vordergrund ihres eigenen Buches gedrängelt hat, indem sie außer dem kurzen Vorwort in Form einer Hassrede keinen weiteren eigenen Beitrag verfasst hat. Sie tritt nach hinten und gibt die Bühne frei für ihre hochgeschätzten Kolleginnen.
Fazit: Leseempfehlung! Ein wichtiges, notwendiges Buch für JederMann (in dem Fall auch Frauen mitgemeint ;-) ). Hassvariationen und -pamphlete von klugen Frauen auf höchstem literarischen und mitunter satirischen Niveau. Für Männer manchmal vielleicht ein bisschen schmerzhaft, aber auch sehr witzig, auf jeden Fall aber extrem interessant. Schaut Euch mal an, wie intelligente Frauen, die auch noch zu schreiben vermögen, diese Domäne zu interpretieren wissen.
P.S.: Der schräge Titel meiner Rezension Schmeck mein Blut sollte eigentlich ursprünglich der Titel dieses Buches sein, aber er wurde in der Annahme verworfen, dass dem Literaturestablishment so viel noch nicht zumutbar sei. Probieren wir mal, ob er bei uns als Literaturfreaks ankommt.
Vor meiner Autorinnenchallenge, die ich 2017 startete, hatte ich zeitgenössische französischsprachige Schriftstellerinnen gar nicht auf dem Schirm, was sich für mich persönlich als kapitaler Fehler herausstellte. Mittlerweile habe ich diese eklatante Bildungslücke ein bisschen mit Nothomb und Despentes repariert und wollte mich ob meiner bisherigen begeisterten Eindrücke in nächster Zeit Delphine de Vigan zuwenden. War ich also bisher schon höchst angetan, bin ich nun von diesem Werk total hingerissen, völlig von den Socken. Bei all dem Hervorragenden, was ich bisher in dieser Literaturabteilung erlebt habe, sticht dieser Roman nochmals aus den ganzen Juwelen heraus – für mich fast schon der Kohinoor der 1A-Diamanten. Wer meine bisherigen Rezensionen kennt, weiß, dass ich mich selten vor Begeisterung überschlage, weil ich in ausgezeichneten Romanen immer noch ein kleines Haar in der Suppe finde, insofern zählt nun diese Einschätzung doppelt.
Also was bietet diese unmittelbar vom Standpunkt der Ich-Erzählerin geschilderte Geschichte eigentlich? Sprachlich wundervoll konzipiert ist sie vordergründig ein Psychogramm, das die Beziehung einer Schriftstellerin zu ihrem weiblichen Psychopathen-Stalker-Fan beleuchtet, jedoch steckt noch so viel mehr hinter dieser Story, das ich mir nie hätte träumen lassen. Sorry, dass ich diesmal inhaltlich auch etwas spoilern muss, aber anders kann ich meine Begeisterung einfach nicht begründen, also wer jetzt schon restlos überzeugt ist und sich die Überraschung nicht verderben möchte, sollte ungefähr nach dem nächsten Absatz zu lesen aufhören.
Der ganze Plot hat ursprünglich was von Stephen Kings Misery (She), wurde aber viel subtiler und weniger gewalttätig konzipiert. Die Figur der Autorin Delphine de Vigan versucht nach ihrem letzten, sehr erfolgreichen Roman wieder die Kraft aufzubringen, sich einem neuen Thema und Projekt zuzuwenden. In diesem geplanten Intermezzo zwischen zwei arbeitsintensiven Phasen lernt sie ihren weiblichen Fan L. kennen, der sich Schritt für Schritt ganz gemächlich in ihr Leben schleicht und im Prinzip alles übernimmt. Ganz leise und unterschwellig bedient die kluge, wunderschöne, sehr selbstbewusste L. die Ängste und Unsicherheiten der Schriftstellerin Delphine und fördert sie zutage, ohne in der ersten Phase übergriffig zu agieren. Durch den hintergründig aufgebauten Druck verursacht L. bei der Protagonistin eine veritable Schreibblockade. So ganz nebenbei wird hier erstmals dem Leser auch ein ganz tiefer, großartiger Einblick in den Schreibprozess und in die kreativen Kalamitäten gegeben, in die eine Schriftstellerin geraten kann, nachdem sie einen Bestseller gelandet hat und eigentlich gezwungen ist, auch das nächste Mal annähernd dieselbe Qualität wie beim letzten Meisterwerk abzuliefern. Das hat mich frappant an den Sänger Falco erinnert, der unmittelbar an dem Tag, als er als erster deutschsprachiger Sänger die Nummer 1 in den amerikanischen Billboard Charts erreichte, anstatt zu feiern todunglücklich reagiert hat und mit dem Ausspruch „Ab jetzt kann es nur mehr bergab gehen“ in die Musikgeschichte einging.
Das Schreiben muss eine Suche nach der Wahrheit sein, sonst ist es nichts. Wenn du dich durch das Schreiben nicht kennenzulernen versuchst, wenn du in dir nicht nach dem gräbst, was in dir wohnt, was dich ausmacht, wenn du nicht die Wunden wieder aufreißt, wenn du nicht mit den Händen wühlst und kratzt, wenn du deine Person, deine Herkunft, dein Milieu nicht in Frage stellst, hat es keinen Sinn. Schreiben gibt es nur als Schreiben über sich. Das Übrige zählt nicht.
Nach und nach steigert die Psychopathin L. die Intensität der Interventionen. Sie trennt schrittweise die Figur Delphine von ihrer Umwelt und den Freunden (der Herde), um sie ganz vereinnahmen und besitzen zu können. Dabei vermeidet es L. aber geschickt, einen direkten Kontakt zu Delphines Umfeld aufzubauen, sie agiert immer im Hintergrund. L. bedient in diesem grandiosen Psychogramm vor allem die Ängste der Autorin bezüglich der Schreibblockade, um dann als Retterin aufzuschlagen, indem sie sogar beruflich für die Schriftstellerin einspringt, ihre Korrespondenz erledigt, Absagen erteilt, Vorworte und kleine Texte für andere Autoren verfasst, um Abgabeterminverschiebungen ersucht und Lesungen absolviert. Mittlerweile hat sich L. auch optisch enorm der Protagonistin angenähert und ist sogar bei ihr eingezogen – selbstverständlich nicht unter Zwang, aber Delphine sah sich im Rahmen der Freundschaft moralisch genötigt, L. in einer Notlage zu unterstützen. Alle Autonomiebestrebungen und Versuche, den neuen Roman zu beginnen, zertrümmert L. mit ganz hinterlistigen, viel zu hoch geschraubten Qualitätsansprüchen, die der selbstkritischen Delphine das Gefühl der Unfähigkeit geben. Nach einer Weile ist Delphine so verunsichert, dass sie nicht mal mehr einen Einkaufszettel schreiben kann. Sie spricht auch aus Scham nicht mit ihrem Umfeld über ihre Probleme, einzig L. ist ihre Komplizin in ihrem massiven persönlichen Versagen, dieser Schreibblockade.
Manchmal kommt mir das etwas abgenutzte Bild einer Spinne in den Sinn, die geduldig ihr Netz webt, oder eines Kraken, der mich mit seinen vielen Fangarmen unschlossen hätte. Aber es war etwas anderes. L. war eher eine leichte, durchscheinende Qualle, die sich auf einen Teil meiner Seele gesetzt hat. Die Berührung hat eine Verbrennung hinterlassen, die aber mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Diese Spur ließ mir scheinbar volle Bewegungsfreiheit. Doch mich band viel mehr an sie, als ich mir hätte vorstellen können.
Mehrmals versucht die Protagonistin, die selbstreflektiert natürlich diese ganze ungesunde Umklammerung ihrer Persönlichkeit ziemlich punktgenau analysiert, sich aus dieser Situation zu befreien. Sie probiert, sich zuerst emotional abzugrenzen und trennt sich schließlich von L., indem sie sie aus der Wohnung und aus ihrem Leben weist. Das ganze Szenario eskaliert dann aber trotzdem nach einem Beinbruch, als die Autorin erneut die Hilfe von L. annimmt und im abgeschiedenen Wochenendhäuschen von Delphines Freund Francois – aufgrund des Trümmerbruchs nun auch noch körperlich sehr immobil – dieser Psychopathin vollends ausgeliefert ist. Nun zeigt sich L.s wahres Gesicht. Sie sperrt Delphine ein und vergiftet sie wochenlang schleichend, um sie total unter Kontrolle zu bringen.
Nach einer sehr spektakulären Flucht glaubt man als Leser*in im Finale der Geschichte angekommen zu sein. Aber weit gefehlt! Nun spielt nicht die Figur, sondern die Autorin De Vigan mit der Realität und der Wahrnehmung. Könnte es sein, dass L. gar nicht existiert hat? Dass die Figur nur eine fiktive Manifestation der psychischen Probleme und der Schreibblockade der Protagonistin ist? Viele, zuvor als unwiderrufliche Fakten präsentierte Episoden könnten auch anders interpretiert werden, denn L. ist Delphines Freunden nie begegnet und ihre Spuren hat sie offensichtlich auch noch restlos beseitigt. Abschließend wird noch etwas Grandioses thematisiert. Wie viel der Protagonistin Delphine ist der Autorin de Vigan tatsächlich passiert? Gekonnt wird mit den Gegensätzen von Wahrheit (Biografie) und reiner Fiktion in der Literatur jongliert und beides ineinander aufgelöst. Wieviel Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Lebens von Autor*innen ist in reiner fiktionaler Literatur vorhanden und wie wahr beziehungsweise geschönt ist Biografisches – oder ist es fast gleich? Das ganze Buch kokettiert ja zwangsläufig mit dieser Frage, selbst mein Mann dachte beim ersten Blick auf den Roman, es sei eine Biografie, dabei ist Nach einer wahren Geschichte nur der Titel und nicht die Beschreibung des Werks.
Fazit: Absoluter Buchstoffhöhepunkt 2020! Einzigartig! Ein Teil Thriller, viel Psychologisches und Philosophisches in einer sprachlich grandiosen fiktionalen Geschichte (oder auch nicht?) verpackt. Dieses Werk ist so wundervoll vielschichtig und nicht nur vordergründig, sondern auch auf einer Metaebene so spannend, dass ich eben nur noch hingerissen war.
Im Prinzip gibt es zwei Arten von Regionalkrimis: Die erste verherrlicht total unkritisch den Aspekt der Regionalität und kommt mit dieser „wir sind wir“- eigentlich im Dialekt „mir san mir“-Mentalität daher, die alles Nicht-Regionale, Nicht-Originäre und Fremde ausgrenzt, beziehungsweise abwertet. Die zweite Art kritisiert diese Mentalität, indem sie sich drüber lustig macht oder sogar sehr böse die Finger in die Wunden der undifferenzierten Mikro-Xenophobie und der prinzipiellen Ablehnung von Neuem legt.
Erstere Art von solchen Krimis bringt mich genauso wie die menschlich-ländlichen Vertreter dieser Mentalität einfach zum Kotzen. Diese Blut- und Boden-Philosophie, die gut versteckt in einem Regionalpatriotismus fröhliche Urständ feiert und bei der man meinen könnte, seit 1945 haben wir Leute vom Land (ich wohne auch dort) so gar nix dazugelernt.
Gedacht habe ich, dass dieser Roman humorvoll eigentlich die zweite Art von Regionalkrimi bedient, in dem er augenzwinkernd die volkstümliche Musik auf die Schippe nimmt. Bekommen habe ich aber eine Rückkehr, eine Restauration einer Haltung, die auch noch völlig unironisch präsentiert wird, die das Brauchtum und die eigentliche originäre ursprüngliche Volksmusik als einzig identitätsstiftende Unterhaltungsform auf dem Land verherrlicht. Lieber Herr Dutzler, da ist mir die koksende musikalische Partie vom Musikantenstadel, obwohl ich sie sehr schwer aushalte, beim Arsch lieber, als diese selbstbeweihräuchernden auf Autochtonie pochenden Volksmusiker, die auch noch völlig unkritisch und liebevoll, als Prototyp eines Ausseers dargestellt werden.
Dabei kenne ich die Gegend und auch die Leute persönlich sehr gut, bin ich doch in Bad Ischl zur Schule gegangen, meine beste Freundin aus der Schulzeit und Jahrzehnte darüber hinaus war aus dem Ausseerland, und da das eben nur einen Rutsch über den Pötschenpass ist, war ich fast jedes zweite Wochenende bei ihr zu Besuch. Auch in der Ausseer Community, die es nach Wien zum Studieren oder Arbeiten verschlagen hat, war ich dank der Freundin lange Zeit bestens integriert. Und in diesem Konglomerat an Ausseern gäbe es sehr viel einmal witzig zu hinterfragen und zu kritisieren. Zum Beispiel diese noch immer von den Einheimischen praktizierte bekloppte Unterscheidung zwischen geborenen Ausseern, die im engen Dorf ohne Weitsicht zwischen den Bergen eingeklemmt ohne irgendeine kurze Horizonterweiterung steckengeblieben sind, dann die nach Wien zum Studium oder der Arbeit ausgewanderten geborenen Ausseer, die von den Steckengebliebenen doch tatsächlich als Verräter beschimpft werden (ich war live drei Mal bei so einem eskalierenden Streit dabei), die Weanaseer, jene Wiener die sich in Aussee einen Zweitwohnsitz erstanden haben, die Fremden, also meist Ausländer, oftmals Deutsche und Menschen aus denNachbarländern, die der Liebe oder des Jobs wegen in Aussee arbeiten und wohnen und die Touristen, denen man Heimatidylle vorspielt und die fürs Geldbeschaffen und das wirtschaftliche Überleben (leider) notwendig sind.
In diesem Roman wird ausschließlich der steckengebliebene Ausseer, der auch noch gegen alles andere wettert und sich in seiner Mikro-Fremdenfeindlichkeit suhlt, als typischer Ausseer in seiner Ablehnung von allem Neuen auf einen Sockel gestellt. Das geht sogar so weit, dass sogar Musiker, die mit neuen Strömungen experimentieren, als Verräter angeprangert und als unsympathische Figuren gezeichnet sind. Mehr stereotyp und schablonenhaft und a bisserl als Lokalpatriotismus, Brauchtum und Ursprünglichkeit förderndes angehauchtes rechtes Gedankengut geht eh nimma.
Und da gäbe es noch viel mehr in Aussee an Brauchtum auf die Schippe zu nehmen. Einmal und nie wieder habe ich mich in die Höhle des Löwen ins Ausseer Bierzelt gewagt. Soviel Sex, Familiendrama, Streit, Gewalt und widerliches männliches Balzverhalten, gefördert durch massiven Einsatz des Katalysators Bier und Zirbenschnaps auf so wenig Quadratmetern kannst als Autor nicht einmal in der Fiktion erfinden. Obwohl ich von Bad Ischl und auch aus Ebensee Vieles gewohnt war, ist mir dort wirklich alles vergangen.
Ach ja die feschen, selbtsverständlich gefälligen Figuren der Madln und Frauen, die natürlich allesamt zumindest gelegentlich Tracht oder trachtig angehauchte Kleidung tragen, (gibt ja in diesem Band fast nix anderes) werden dann auch noch über die Ursprünglichkeit und Korrektheit ihrer Dirndltracht (das bezieht sich tatsächlich auf das Tal und die dort übliche Farbe von Kleid und Schürze) definiert und kritisiert. Ich weiß, dass es so etwas schon lange gab und habe es als Kind selbst und als Jugendliche an anderen auch erlebt, da ich mich ab meinem elften Lebensjahr auf Grund der wahrgenommenen Ausgrenzungen überhaupt weigerte, Dirndl zu tragen. Aber nun ist ein neues Jahrtausend angebrochen und auch auf dem Land sollten wir endlich einmal mit dieser (Mikro-)Fremdenfeindlichkeit aufhören. Vor allem in Tourismusgebieten wäre das schon angebracht. Aber was erzähle ich denn, im Rahmen der Corona-Krise trat diese unschöne Fratze des menschlich total hässlichen Ausseers wieder zu Tage. Die vier Bürgermeister der Ausseer Gemeinden haben alle Zweitwohnsitzinhaber mit Security ausforschen lassen und ihnen ausgerichtet, dass sie zu Hause am Hauptwohnsitz bleiben müssen, denn sie wären unerwünscht im Ausseerland. Sie forderten von der Bundesregierung sogar eine Totalschließung ihrer Region. dass sie quasi nur für Einheimische errreichbar wäre, was auf Grund der wenigen Covid-Fälle gesetzlich überhaupt nicht möglich war. Den widerlichen Brief, den tatsächlich alle vier Bürgermeister unterschrieben haben, möchte ich Euch nicht vorenthalten. https://www.derstandard.at/story/2000...
Also ich habe keinen Zweitwohnsitz dort, aber ich weiß, in welche fremdenfeindlichen Gemeinden, die es wagen, sogar Gäste aus anderen Bundesländern zu bashen, ich nach Öffnung des Tourismus nach der Krise, mein Geld sicher nicht mehr hintragen werde.
Kein Wunder, dass des Ermittlers, Inspektor Gasperlmaiers Frau, sich in diesem Band auf eine Weltreise verzogen hat. Ich hätte auch schleunigst Fersengeld gegeben und wäre aus dieser Heimatidyll- und Brauchtumshölle geflüchtet.
Aber nun weg vom Sentiment und den unterschwellig vermittelten Botschaften durch die Figurenentwicklung hin zum Plot des Krimis. Außer dass ich mich bei jeder Figur geärgert habe und die von mir irrtümlich und fälschlich erwartete Ironie nie finden konnte, war das Setting auch ziemlich langweilig. Ja es gab ein paar Verdächtige, aber das Finale war wenig überraschend. Fast schon schablonenhaft bediente der Autor das persönliche Eifersuchtsmotiv, das zwar schlüssig war, aber das habe ich eben schon tausend Mal genauso vorgesetzt bekommen ohne irgendeine innovative Variation oder eine Mini-Überraschung in der Story.
Fazit: Vom Krimiplot her unterdurchschnittlich aber nicht ganz schlecht, von den Figuren, der Botschaft und der Stimmung her eine regelrechte Katastrophe – ergibt in Summe leider einen sehr schlechten Roman. Dieses hier dargestellte Ausseerland kann mir gestohlen bleiben. By the way, ich kenne und schätze einige - eigentlich sogar viele - Menschen dort, die den im Krimi präsentierten Figuren diametral entgegengesetzt sind: weltoffen, modern und menschenfreundlich.
Dieser gelungene Roman von Martina Borger erzählt eine sehr gute Geschichte und beschäftigt sich mit einem wichtigen Dilemma von Frauen, die gerade eine Patchworkfamilie gegründet haben. Wenn der Verdacht besteht, dass dem eigenen Kind körperlicher oder auch sexueller Missbrauch passiert ist, stellt sich die Frau dann automatisch auf die Seite des Kindes, untersucht massiv die Verdachtsmomente gegen den neuen Partner und beschuldigt diesen auch noch gleich? Wo beginnt das aktive Wegschauen von Frauen, die Misshandlungen des Partners nicht wahrhaben wollen und wo beginnt die unfaire Verdächtigung, die eine eigentlich gute Beziehung zerstört, weil auch das Vertrauen unnötig ruiniert wurde? Was liegt zwischen diesen Polen? Wie spielt auch das Umfeld bei den Beschuldigungen mit, ab wann muss man sich bei Verdacht einmischen, wann ist man ungerecht? Diese leise Geschichte rollt das umfassende moralische Dilemma, mit dem eigentlich jeder, auch Menschen, die keine Kinder haben, irgendwann einmal als Zeuge konfrontiert sein könnte, richtig gut auf.
Sina hat nach jahrelanger Alleinerzieherschaft und einigen ökonomischen, beziehungsmäßigen und organisatorischen Katastrophen plötzlich den Jackpot gezogen. Ihr ständiges Betreuungsproblem löst sich unvermittelt in Luft auf, denn der Sohn Elvis ist bei der Nachbarin, der etwas einsamen Pensionistin und Buchhändlerin Ellen gut aufgehoben. Zudem hat sich Sina in einen neuen Partner, den arbeitslosen, geschiedenen Ex-Alkoholiker Thorsten Hals über Kopf verliebt, der dann auch noch einen guten Job ergattert und sein Leben endgültig in glückliche Bahnen lenkt. Alles ist total paletti, Thorsten hat zwar sein Paket an Beziehungs- und persönlichen Bürden aus der Vergangenheit zu tragen – wie eigentlich alle geschiedenen Personen eine Vorgeschichte haben – aber er ist selbstreflektiert, hat Therapie gemacht, ehrlich kommuniziert und ihr nichts verheimlicht. Er ist im Gegensatz zu ihrem unzuverlässigen Ex-Mann vertrauenswürdig, liebevoll, ein großartiger Partner und versteht sich als Vorbild und Stiefvater mit Elvis recht gut.
Bis zur Seite 100 transformiert sich das bisherige Chaosleben von Sina in eine glückliche Wohlfühlwelt, die Autorin stellt so nebenbei auch noch alle Figuren liebevoll auf und entwickelt sie ebenso. Doch im Hintergrund wabert schon bedrohlich irgendein Ungemach – so wie der drohende Hintergrundton in Filmen wie „Der weiße Hai“ – das dem Leser doch einiges an Dramaturgie und Spannung beschert.
Leider dauerten mir persönlich dieses Vorgeplänkel und das Aufstellen der Figuren um eine Nuance zu lange. Erst auf Seite 209 kommt das eigentliche Drama heraus – das war mir dann um hundert Seiten zu wenig zügige Dramaturgie und Tempo. Bitte versteht mich nicht falsch, das ist mein Jammern auf hohem Niveau und ich erkläre dadurch lediglich bei einer Fünf-Sterne-Bewertung den Abzug eines Sternes. Das Buch ist trotzdem sehr gut.
Dann steht die Katastrophe unvermittelt quasi wie eine dunkle Wolke im Raum und in Sinas Leben. Nach einem Wochenende inklusive Campingausflug mit Thorsten und einer Übernachtung bei Elvis Freund hat Ellen bei Elvis Verletzungen am ganzen Körper festgestellt. Der Junge möchte nicht darüber reden und es bringt gar nichts, in ihn zu dringen. Zuerst versucht Sina noch zu verdrängen, was Ellen ihr erzählt hat, aber nach ein paar Wochen bemerkt auch die Lehrerin blaue Flecken. Fest steht, während der Übernachtung bei Elvis Freund ist nichts passiert und Elvis und Thorsten haben miteinander ein Geheimnis. Für die Mutter bricht die ganze idyllische Familie mit einem Schlag auseinander und irgendwann kann sie die Augen auch nicht mehr vor ihrem Verdacht verschließen, sie konfrontiert Thorsten mit ihren vermuteten Beschuldigungen. Schließlich muss sie als gute Mutter diese Frage bohrend stellen. Leider zerbricht die noch sehr junge, bisher glückliche Beziehung sofort, Thorsten kann das mangelnde Vertrauen nicht akzeptieren und trennt sich schlagartig. Aber auch andere Kollateralschäden wurden in unterschiedlichen Beziehungen verursacht, sie sind fast alle kaputt, denn Ellen macht sich Vorwürfe, vielleicht überreagiert zu haben, Sina will mit Ellen nichts mehr zu tun haben und dadurch kann auch Elvis mit seiner guten Freundin nichts mehr unternehmen.
Lange weiß auch die Leserschaft nicht, ob Thorsten schuldig ist oder nicht. Eine Wendung im Plotfinale spielt dann noch einmal grandios mit der berechtigen Thematisierung dieses Dilemmas, in dem alle beteiligten Personen verstrickt sind und dem Umstand, dass solch ein zu schnell geäußerter Verdacht auch eine Menge unfairen Schaden anrichten kann, indem er an Unschuldigen kleben bleibt. Irgendwie hatte ich in diesem Szenario mit allen Figuren, die Opfer der Umstände geworden sind und dadurch alle auseinandergerissen wurden, beziehungsweise deren Positionen und Nöten Verständnis und Mitgefühl. Das war richtiggehend herzzerreißend, wie gute Menschen, die sich alle richtig verhalten, trotzdem völlig ausweglos in solche Katastrophen schlittern können. Am Ende gibt es einen kleinen Silberstreif am Horizont, der aber nur als Möglichkeit angedeutet wird.
Fazit: Eine sehr einfühlsame, äußerst sensible Auseinandersetzung mit dem Thema Patchworkfamilie und Missbrauch von Kindern. Ein ausgezeichnetes Psychogramm der Figuren und ein Plot, der ein wichtiges Thema von vielen Seiten beleuchtet. Lesenswert!
Ich bin ja ein veritabler Fan des Onkel Franz aus dem Innviertel und habe schon seine wundervolle Reise nach Wien begeistert hier auf dem Blog rezensiert. In seinem neuen Roman, der keine zusammenhängende Geschichte erzählt, sondern viel anekdotischer konzipiert ist, begibt sich der Protagonist wieder auf die Reise, aber auf eine sehr vergnügliche Reise in Episoden quer durch das Kalenderjahr.
Der Roman startet mit einem lustigen Gschichtl am Neujahrstag, den 1.1., und endet zu Silvester am 31.12. Mit witzigen und teilweise grotesken Ereignissen aus dem Innviertel und aus dem benachbarten Bayern, das den Innviertlern von der Kultur her sehr ähnlich ist – von einigen Ortschaften und Städten des Innviertels geht man nur ein paar Meter über den Fluss ins Nachbarland – wird ein ganzes Jahr beleuchtet und satirisch sehr gut aufbereitet.
Aber warum bin ich denn überhaupt Fan von so einer Figur? Klaus Ranzenberger hat den Onkel Franz sehr gut konzipiert. Der Onkel ist zwar ein Bewahrer, der auf Gutem aus der Vergangenheit zu beharren und manche modernen Sitten ob ihrer Sinnhaftigkeit infrage zu stellen weiß. Er ist aber kein Kulturpessimist, der meint, früher wäre alles besser gewesen, im Gegenteil, manche der ganz modernen Sitten (eigentlich ganz alte Sitten, die wieder von der Jugend reaktiviert werden), wie Umweltschutz, Kapitalismuskritik und Kampf gegen Xenophobie, weiß er durchaus zu schätzen, wenn er sich mit dem Neuen und Fremden auf der Basis seiner Neugier intensiver auseinandergesetzt hat. Er nimmt alle ländlichen Ressentiments seiner Herkunft – des kleinen Dorfes – auf, überprüft sie, bewertet sie aus der Sicht seiner Lebenserfahrung und prinzipiellen Menschenfreundlichkeit und entzieht ihnen dann einfach den Boden. Ebenso verfährt er in diesem Buch mit dem Brauchtum und stellt es augenzwinkernd infrage. Das gefällt mir sehr gut.
Die Geschichten sind meist so köstlich, dass ich kichernd im Lesesessel gesessen bin. Die perfekte Lektüre für solch schwere Zeiten, in denen uns Sorgen plagen. Am ersten Jänner treffen sich uneingeladen zufällig die Neujahrsbläser, die Heiligen Drei Könige, die infolge von Rationalisierungsmaßnahmen in diesem Jahr früher dran sind, um ihr Pensum zu schaffen, der Postbote und die Zeugen Jehovas in Onkel Franzens Vorbau und stören ihn bei der Aufnahme seiner Nachmittagsjause. Nach einem recht witzigen Geplänkel, das in einem veritablen Besäufnis und Essgelage endet, bei dem der Onkel auch noch den Kellner spielen muss – so ist es auf dem Land Brauch –, büchst der Hausherr irgendwann genervt ob der unerwünschten Horde zur Hintertür hinaus. So geht es fröhlich weiter über Fasten, Osterbräuche und witzige -kalamitäten, Hochzeiten im Mai und so weiter.
Sehr lustig war auch die Geschichte vom Ferdl, der im August am Stammtisch wie immer mit der Waffe Bildung nicht ganz umzugehen weiß und seine Urlaubserlebnisse schildert.
Geschickt versteht er Fremdwörter und Fachbegriffe in seine Rede einzubauen. Rudimentäre Fremdsprachenkenntnisse und gymnasiale Unterstufenbildung weiß er anzuwenden, und nur selten stolpert einer der anderen über die kleinen Fehler, die dem Ferdl ab und an unterlaufen.
In diesem Zitat sind die Wörter selten und ab und an so satirisch zu nehmen, dass ich irgendwann in der Geschichte einen totalen Drehwurm bezüglich der falsch applizierten Wörter bekam. Es war hinreißend komisch. Der ziemlich ausführliche Wahnwitz, den ich hier als Zitat aus dem Kapitel [sic!] präsentiere, ist wirklich nur ein Bruchteil des gesamten Abschnitts.
Und Italienisch is ja eh fast’s Gleiche wie Latein, caprice? Hab mir also eine Birra bestellt, aber grande und caldo. Da dürft er mich aber nur halbert verstanden haben, der Papageno, weil groß wars dann schon, das Bier aber halt warm. […]
Was jetzt die Unterschiede sind zum Beispiel zwischen Italien und Österreich. […] die Radlwege. Bei uns san in jeder Querstraß‘ so blöde Stufen, die in Italien sind niveaulos. Da geht’s schön eben dahin. Wogegen die Regierung bei uns meist aus einer Zweier-Kollision besteht, in Italien können’s schon mal vier oder fünfe sein. Da sitzen dann oft die Radikalen drin, solche wie bei uns die Sanitären. Dafür sind fast alle Italiener Katholen. Weil auch der Papst dort wohnt. Kaum Evangelisten. Aber a prioli ist dieses Italien – und das muss man least but not last rekatapultierend sagen – trotzdem ein sehr schönes Land. Diese Lebensart und die südliche Leichtigkeit, dieses Dolce Firmamente, geht uns halt ab, gell?
Ich habe übrigens mal in St. Gilgen einen Restaurantchef getroffen, der diese Form der Konversation, inflationär die falschen Fremdwörter zu verwenden, zur Kunstform erhoben hat, indem die Sätze dann auch tatsächlich andere Bedeutungen hatten. Das war ein höchst anstrengender und lustiger Abend.
Aber zurück zum Jahresablauf. Im Herbst besucht Onkel Franzens Stammtisch dann das Münchner Oktoberfest und erlebt einige Abenteuer. Die aberwitzigste, groteskeste Episode ist die moderne Nikolausfeier der Kindergarten-Zwergerlgruppe römisch eins aus Haubenbrunn, in der der Großbauernsohn Klenkenbichler Schorschi, die sehr progressiv erzogene Dakota Cheyenne und Kemal mit Migrationshintergrund die Tante, (Halt! das sagt man nicht mehr) die diplomierte Kleinkindpädagogin und die Praktikantin, die den Nikolaus verkörpert, an den Rand des Wahnsinns bringen. Die neuesten Richtlinien betreffs pädagogischer Unterweisung von Vorschulkindern, zwar das Brauchtum zu vermitteln, aber weitgehend auf christliche Symbole zu verzichten und angstfrei zu unterrichten, geht so gehörig nach hinten los. Kemal versucht das den Zwergerln dargebotene Narrativ zu überprüfen, dass der präsentierte Nikolaus ein Bischof aus Konstantinopel sei, indem er die Figur in ein türkisches Gespräch verwickelt, Dakota checkt durch hochheben des Mantels unverblümt das Geschlecht des Nikolaus und bekommt heraus, dass unter der Verkleidung eine Frau steckt und der Schorschi will das Laserschwert, das ihm sein Vater versprochen hat.
Er (Schorschi) fasst den Sack am unteren Ende und leert ihn ganz aus. Die Situation eskaliert. Sämtliche Kinder der Zwergerl Gruppe römisch eins stürzen sich auf die verstreuten Gaben, es hat ein bisserl was von Anarchie. Die Dakota Cheyenne sucht das ihr versprochene rosa Handy, und der Kemal, der sich inzwischen seine Jausen-Tascherl geholt hat, macht reiche Beute. Schorschi hat sich des Bischofstabes bemächtigt und spielt damit Jedi-Ritter.
So geht es vergnüglich im Jahresablauf weiter von der „stillen“ Adventszeit über Weihnachten bis zu Silvester.
Fazit: Anspruchsvoller, köstlicher, augenzwinkernder Humor, der das Leben der Landbevölkerung skizziert. Absolute Leseempfehlung in so ernsten Zeiten. Wer den Witz und Lokalkolorit von bayrischen Landkrimis der Kommissare Jennerwein (Jörg Maurer) und Franz Eberhofer (Rita Falk) liebt, ist hier punktgenau im richtigen Buch.
Hallo meine Lieben!
Im April hat sich im Rahmen der Autorinnen-Lesechallenge leider ein bisschen weniger getan. Ich habe nur 2 Bücher ausgelesen und 3 Bücher angefangen bzw. schon fertig gelesen, aber die Rezension noch nicht veröffentlicht. Weiters wurden aus dem Kremayr & Scheriau Herbstprogramm noch 2 Bücher in meine Bestellungsliste aufgenommen.
Meine Wunschliste und der grobe Leseplan das meiste von meinem SUB
5.) Delphine de Vigan, nach einer wahren Geschichte (currently reading)
4.) Birgit Vanderbeke: Muschelessen ⭐️⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (11.03.2020)
3.) Yazmin Reza: Glücklich die Glücklichen ⭐️⭐️ Sterne (08.03.2020)
2.) Amelie Nothomb: Der japanische Verlobte ⭐️⭐️⭐️,5 Sterne (25.2.2020)
1.) Natascha Kampusch: 3096 Tage ⭐️⭐️⭐️⭐️ (09.01.2020)
Lust oder die Liebhaberinnen, Elfriede Jelinek
Lady Orakel, Margaret Atwood
Vernon Subutex 3, Virgenie Despentes
Zehn, Franka Potente
Landgericht, Ursula Krechel
Erebos, Ursula Poznanski
Macht, Karen Duve
Christine Nöstlinger, Maikäfer flieg
Jessica Durlacher, Die Tochter
Lilian Faschinger, die neue Schehrazade
Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land
Ingried Brugger, & Bettina M. Bussse: The Cindy Sherman Effect
Bestellte Rezensionsexemplare
13.) Lappert, Simone: Wurfschatten Rezensionsexemplar (currently reading)
12.) Greengrass, Jessie: Was wir voneinander wissen Rezensionsexemplar (currently reading)
11.) Haider, Lydia(Hrsg.): Und wie wir hassen Rezensionsexemplar (currently reading)
10.) Borger, Martina: Wir holen alles nach Rezensionsexemplar (currently reading)
9.) Marketa Pilatova: Mit Bat'a im Dschungel ⭐️⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (24.4.2020)
8.) Sibylle Berg: Nerds - retten die Welt ⭐️⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (11.04.2020)
7.) Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder ⭐️⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (24.3.2020)
6.) Simone Hirth: Das Loch ⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (19.3.2020)
5.) Elisa Tomaselli: Wen kümmert's ⭐️⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (15.03.2020)
4.) Angelika Hager: Kerls! ⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (23.2.2020)
3.) Heidi Emfried: Des Träumers Verderben ⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (12.2.2020)
2.) Natascha Kampusch: Cyberneider ⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (03.02.2020)
1.) Dora Cechova: Ich wollte kein Lenin werden ⭐️⭐️⭐️⭐️ Rezensionsexemplar (09.01.2020)
Verena Stauffer: Ousia Gedichte
Happy End für Mrs Robinson, Evelyn Steinthaler
Nothomb, Amélie: Happy End
Vine, Barbara: Astas Tagebuch
Petra Piuk, Barbara Filips: Wenn Rot kommt
Barbara Rieger: Friss oder stirb
Dieser großartige Roman über die Schuhfabrikantendynastie Bat‘a bedient punktgenau eine meiner Jugenderinnerungen. Als Kind, Jugendliche und junge Frau habe ich immer die liebevoll dekorierten Schaufenster des Bat‘a Geschäfts in der Linzer Landstraße betrachtet, manchmal etwas probiert, aber nie etwas gekauft. Diese wunderschönen Designer-Schuhe waren trotz der moderaten Preise einfach zu teuer für mich. Insofern war es sehr spannend, hinter die Kulissen der Familie und des Weltkonzerns zu blicken.
Leider beschlich mich auch gleich das Gefühl, dass ich selbst schuld bin, weil ich mit diesem Buch nicht so gut zurecht gekommen bin, wie ich gehofft hatte, denn ich konnte mich einfach in letzter Zeit nicht ordentlich konzentrieren. Auf Grund eines Bandscheibenvorfalls, Schmerzmitteleinnahme, Angst vor einer Corona-Ansteckung beim Arzt durch die dringend notwendigen Mobilisierungsmaßnahmen und argen Existenzproblemen, konnte ich bei diesem Roman nicht ständig am Ball bleiben, meine Gedanken schweiften immer wieder ab, dabei ist hier doch zumindest bis weit über die Mitte der epischen Familiensaga ein gehöriges Maß an Fokussierung und Konzentration notwendig, um die gewöhnungsbedürftigen Perspektivenwechsel aus der Sicht der vielen Bekannten und Familienmitglieder zu erfassen und die Handlung auch chronologisch korrekt zusammenzusetzen. Tja, die Geschichte war für mich bis zu zwei Dritteln der Dauer doch ganz schön irritierend und gehörig dekonstruiert. Sozusagen eine zerschnipselte Biografie mit vielen Figuren, die ihre Sicht der Dinge stroboskopartig ohne durchgängigen Zeitablauf darlegten.
Wenn schlussendlich das Gebäude aufgebaut ist und die einzelnen Ziegel darin sortiert sind, gibt es aber ganz großes Kino. Die wahre Geschichte der Schuhfabrikanten Bat’a hat wirklich alles: Flucht vor den Nazis ins Ausland, ein bisschen Hundert-Jahre-Einsamkeit-Feeling durch den Neu-Aufbau einer Fabrikstadt mitten im Dschungel von Brasilien, eine wahrhaft spannende politische Komponente durch den Kampf mit den tschechischen Behörden um die Restitution des Familienvermögens nach dem zweiten Weltkrieg und nach der erneuten Enteignung durch die Kommunisten und zu guter Letzt auch noch eine fiese, finstere Intrige innerhalb der Großfamilie zusammen mit politischen Handlangern, das Familienvermögen unverdient an sich zu reißen.
Jan Antonin Bat’a, tschechischer Großunternehmer und Visionär, wurde von den Nazis als Jude verfolgt, von den Kommunisten als Nazi verleumdet und stand auch noch bei den Briten, Amerikanern und den Tschechen auf der schwarzen Liste, weil alle ganz gierig darauf waren, sich die jeweiligen weltweit verstreuten Fabrikniederlassungen des Schuhkonzerns durch Enteignung unter den Nagel zu reißen. Am Ende hat sich der Sohn seines Halbbruders, der mit den Kommunisten kollaborierte und Originaldokumente verschwinden ließ, die Fabrik geholt, obwohl er überhaupt nicht Eigentümer war. Erst nach dem Tod von Jan Antonin Bat’a – lange nach der Öffnung des Ostblocks – wurde dieser auf Betreiben seiner Töchter endlich zumindest in Bezug auf seinen Ruf rehabilitiert.
Ein Motto der gesamten Saga könnte man in einem Satz auf Seite 17 zusammenfassen, auch wenn es mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte und auf vierhundert Buchseiten ausgearbeitet wurde.
Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen wie Öl auf dem Wasser.
Der Familienpatriarch versucht unermüdlich, seinen guten Ruf wiederherzustellen und die Wahrheit, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges und des Kommunismus verlorengegangen ist, zu Tage zu fördern. Dabei verzweifelt er nicht und ergeht sich nicht in allgemeiner Misanthropie sondern baut unermüdlich und fleißig am anderen Ende der Welt ein noch größeres Imperium auf, als jenes, das er schon verloren hat.
Glaube ich immer noch und nach allem, was war, an die Menschheit und ihre Mission? An eine vernunftbestimmte, humane Zukunft? Ich würde gerne Nein sagen. Denn nur ein Verrückter könnte nach den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, noch an die Vernunft, die Gerechtigkeit und die Menschheit glauben, geschweige denn an eine vernünftige, humane Zukunft. Aber letztlich war ich immer ein Verrückter. Heute würde man sagen ein „Freak“.
Selbstverständlich gibt es auch hier wie in jedem Familienepos unzählige sehr liebevoll und tief entwickelte Figuren quer durch die Generationen, aber das ist bei mir ohnehin ein Hygienefaktor in diesem Genre. Zudem bin ich von der außerordentlichen Sprachfabulierkunst der Autorin Markéta Pilátová schon seit letztem Jahr restlos begeistert, als ich sie Euch im Rahmen der Reihe Tschechische Auslese mit dem Kurzroman „Der Held von Madrid“ bereits wärmstens auf diesem Blog ans Herz gelegt habe.
So schildert der serbische Schwiegersohn von Jan Antonin Bat’a seine Diaspora aus Europa folgendermaßen:
Ich sammelte mein Schusterwerkzeug zusammen und machte mich zu Fuß über Italien nach England auf, wo ich mich den Alliierten anschloss. In der Zelle hatte ich mir auch geschworen, dass ich in einer möglichst weiten Landschaft leben würde, dass mich niemand mehr irgendwo einsperren würde. Aber dass ich einmal achttausend Hektar brasilianischen Urwald besitzen würde, hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen. Nun hatte ich als Partisan nicht für die Kommunisten gekämpft, sondern für König Petar. Dragoslav und ich konnten uns also ausrechnen, dass wir nach dem Krieg nicht sonderlich beliebt sein würden. Man musste nur einmal tief durch die Nase einatmen, und es stank bereits nach neuen Gräueln. […]
Also ließ Dragoslav seinen Finger über der Weltkarte kreisen und Brasilien gefiel uns nicht schlecht, weil es so riesengroß aussah und weil unserer Vorstellung nach viele Menschen dort barfuß gingen, denen wir Schuhwerk anfertigen konnten, wie unser Vater es uns beigebracht hat. Nach diesem Krieg konnte uns nichts mehr schrecken. Wir fürchteten weder Teufel noch irgendwelche Krokodile, Schlangen oder Urwaldindianer.
Fazit: Absolute Leseempfehlung für diese großartige Familiensaga, die Presseagentin, die mich immer mit österreichischer Literatur von unterschiedlichen Verlagen versorgt, meinte sogar, sie hätte was von „Krieg und Frieden auf Tschechisch“ und dem kann ich auf jeden Fall zustimmen. Bitte lernt aber aus meinen Fehlern und sucht Euch ein ruhiges Platzerl und eine ruhige Zeit, um das Buch zu lesen, denn mit Hummeln im Hirn hat man einfach weniger Freude daran.