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awogfli

Awogfli - Bookcroc

Ich bin Buchgourmet und Buchgourmand quer durch viele Genres

Ausgezeichnetes spannendes, grausames Psychogramm einer gestörten Persönlichkeit

Haus der Stummen: Roman - John Burnside, Bernhard Robben

Der Roman beschreibt  aus Innensicht (Ich-Erzählungsstil) die Welt eines Psychopaten, der sich für einen Wissenschaftler hält, mit abscheulichen menschlichen Sprachexperimenten die Anlage-Umweltproblematik der Entwicklungspsychologie bzgl. Sprachentwicklung erforschen möchte und eigentlich doch nur seinem Verlangen nach Macht, Kontrolle und Sadismus frönt.

Die Geschichte von John Burnside geht sogar in zwei getrennt voneinander konzipierten Ebenen auf die Gen/Umweltproblematik ein, die sich damit beschäftigt, ob bestimmte Entwicklungen des Menschen angeboren sind oder erlernt werden, in welchem Ausmaß die Faktoren wirken und ob sie und in welchem Rahmen nachträglich (nach Abschluss der Gehirnentwicklung) noch verändert werden können

Dies geschieht einerseits durch die Gedanken und geplanten Experimente des Hauptprotagonisten mit Kindern zur Sprache, indem man sie völlig ohne Sprachreize in absoluter Stille und Isolation aufwachsen läßt, andererseits auch durch die Geschichte des psychopatischen Erzählers, der erst nach und nach seine antizsoziale Persönlichkeitsstörung voll entwickelt und  auslebt. Von der Kindheit an kann man aus einer dekonstruierten, fokussierten minimalistischen Innensicht die Welt eines Psychos erkennen:  Wie  die ersten Traumata passieren und wie damit umgegangen wird, wie die Außenwelt bzw. die Reflexion des Hauptprotagonisten darauf wahrgenommen wird, wie die ersten Grausamkeiten an Tieren passieren, wie immer mehr die Empathie und der Kontakt zur Umwelt abreisst und dies schlussendlich in gnadenlosen meist beiläufigen Gewalttaten gipfelt. Der Roman bietet insofern einen  innovativen spannenden Zugang zum Thema Psychopath weil er anders als die Fitzek Thriller oder wie sie alle heißen bzw. im Gegensatz zu den Sachbüchern und Beschreibungen der Kriminalpsychologen nur die Innensicht dieser antizozialen Persönlichkeitsstörung  abbildet.

Selten hat mich ein Buch derart dazu animiert,  so viel Hintergrundmaterial zu recherchieren und zu lesen, denn ich wollte einfach folgende Fragen klären: Was sind die Kennzeichen eines Psychopaten und wie wird man zum Psycho? Wieviel ist genetisch und wieviel ist erlernt durch Gewalterfahrungen und Traumata in der Kindheit? Dieselbe Frage musste ich auch bzgl. Sprache klären: Hat Sprache eine angeborene Komponente oder ist alles als Kulturleistung erlernt? Neuere wissenschaftliche Forschungen geben der Genetik als Einflussfaktor sehr viel Raum. Alle beiden Forschungsgebiete wurden auch vom Autor sehr sauber recherchiert und ganz subtil in die Geschichte eingebaut, sonst wäre der Roman nicht so geschrieben.

Ausserdem muss ich noch über eine sehr erfreuliche Leseerfahrung berichten. Ich habe die Geschichte zusammen mit einer Lesegruppe erfolgreich bewältigt. Auch in der Vergangenheit habe ich schon an Lesegruppen teilgenommen, aber bisher hatte ich keine so positiven Erlebnisse, wobei dies meist nicht an der Gruppe sondern an den Büchern lag.  Die konstruktiven bis genialenen Diskussionen haben mir diesmal sehr gut gefallen.

Die Geschichte ist teilweise fast nicht erträglich durch ihre lapidare Grausamkeit, ihre banalen, aber ungeheuerlichen Verstöße gegen die gesellschaftlichen Normen, und wirkt durch den labilen ziellosen Charakter des Protagonisten manchmal sprunghaft und selbst ohne Absicht, dies ist aber nicht der Grund, warum ich einen Stern abziehe.

Es ist das Ende, das mich so gestört hat. In einer weiteren Ablaufschleife scheitert der Psycho an seinen eigenen Experimentalzielen, vernichtet die Untersuchungsgegenstände, wird nicht entdeckt, sucht sich ein neues Opfer und beginnt erneut von vorne... dieses Ende mag zwar durchaus realistisch sein, befriedigt aber weder mich noch schöpft es sein eigenes Potenzial aus.

Denn was mich noch brennend interessiert hätte: Wie reagiert der Psycho aus Innensicht wenn er erwischt wird? Mit welchen Argumenten rechtfertigt er sich vor der Gesellschaft und der Justiz, den Therapeuten..... da wäre noch viel zu entdecken gewesen, das mir der Autor vorenthalten hat.

Fazit: Ausgezeichnetes spannendes, grausames Psychogramm einer gestörten Persönlichkeit, aber nicht für jedermann geeignet