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Awogfli - Bookcroc

Ich bin Buchgourmet und Buchgourmand quer durch viele Genres

Quer durchs historische Wien mit kleinen Kriminalfällen und gutem Essen

Morphium, Mokka, Mördergeschichten - Gerhard Loibelsberger

Immer, wenn ein neuer Krimi mit Kult-Ermittler und Inspector Joseph Maria Nechyba erscheint, jubilieren sowohl mein Herz ob der liebevoll gezeichneten Figuren, mein Magen ob der kulinarischen Köstlichkeiten als auch mein Hirn, weil es gar so gern durch das historische Wien um die Jahrhundertwende flaniert.

 

Dieses Potpourri an Kurzgeschichten startet im Jahr 1873, als der kleine Peppi (Josef) Maria im Alter von 13 Jahren seinen ersten Kriminalfall außerhalb von Wien in der Gemeinde Mauer löst und seit diesem Zeitpunkt in Bezug auf den Job des Ermittlers Blut geleckt hat. Zudem geht es bunt gemischt mit fiktiven und echten Kriminalfällen des alten Wiens in Form von kurzen Geschichten weiter. Fast bis ins Jahr 1918, als Nechyba als Oberinspector kurz vor seiner Pensionierung und das alte K&K-Reich Österreich-Ungarn kurz vor dem Zusammenbruch steht.

 

Wer die Reihe überhaupt nicht kennt, wird eine lineare und tiefe Figurenentwicklung in diesem Band bedauerlicherweise vermissen und muss darüber hinwegkommen, Fans der Serie werden aber überglücklich sein, spielen doch sehr viele Protagonisten aus den vorangegangenen Romanen in den unterschiedlichen Geschichten wieder eine wesentliche Rolle.

 

Zudem bewegt sich Nechyba diesmal wirklich quer durch fast alle Bezirke Wiens, die sehr anschaulich beschrieben werden, und den LeserInnen eine derart wundervolle und ausführliche Beschreibung liefern, sodass leicht ein Vergleich der Vergangenheit zum modernen Wien gezogen werden kann, vor allem weil sich in der Kernstadt an der Donau speziell in den Innen- und Mittleren Bezirken (1-19) bis zum Gürtel* wirklich alles sehr, sehr langsam, quasi majestätisch, im Schneckentempo ändert.

Die kulinarischen Gelüste der Leserschaft, deren Befriedigung eine große Stärke der gesamten Reihe darstellt, werden wieder sehr umfassend bedient. Der Inspector schlemmt sich als Gourmet und Gourmand quer durch die Stadt, und weil Nechyba ja auch allem auf den Grund geht, ermittelt er selbstredend die Zubereitungsarten der nicht überall bekannten historischen Gerichte. So habe ich nun beispielsweise tatsächlich die wichtigsten Informationen, um einen faschierten Karpfen und ein Wiener Backfleisch zuzubereiten.

 

Gewürzt wird die liebevolle Beschreibung des Ambientes der historischen Stadt und der kulinarischen Köstlichkeiten mit sehr kleinen Kriminalfällen, die oft durch Inspektor Zufall oder durch die reine Intuition Nechybas in Windeseile gelöst werden. Und hier sind wir schon bei einer Schwäche dieses Bandes, kriminaltechnisch kommt einfach zu wenig Spannung auf.

 

Als weitere gewohnt häufig verwendete Beilage serviert der Autor natürlich auch noch unzählige gewichtige historische Persönlichkeiten, die in einer kleinen Nebenrolle konsistent in die Handlung eingewoben werden. Diesmal möchte ich den jungen Doktor Sigmund Freud hervorheben, der irgendwann in der Pathologie Wien gearbeitet hat oder Gottfried Semper, der das Wiener Burgtheater entworfen hat und dann sehr intrigant aus der Stadt geekelt wurde.

 

Stilistisch sollte ich auch noch erwähnen, dass sehr viele Wiener Dialektausdrücke verwendet werden, die aber alle hinreichend in Fußnoten erklärt werden. Zudem zeichnen sich die Dialoge durch teilweise witzigen, teilweise ein bisschen brachialen Wiener Schmäh (Humor) aus, was ebenfalls eine Einzigartigkeit der Reihe darstellt.

„Antschi Tant‘, ich hol einen Schluck Wein zum Fisch dazu.“
„Aber heut ist doch Freitag, Da sollt ma fasten.“
„Es is‘ eh ein Messwein.“
„Na in Gottes Namen …“

Fazit: Neueinsteigern würde ich nicht unbedingt empfehlen, mit diesem Band zu beginnen, da davon ausgegangen wird, dass die Figuren bekannt sind. Fans der Reihe, so wie ich, werden aber durchaus ihre Freude an der Kurzgeschichtensammlung finden, vor allem deshalb, weil die Serie doch letztes Jahr mit dem ultimativen Band zum Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen-Monarchie bereits zu Ende zu sein schien. Ergo: Dieser Relaunch als Potpourri von Geschichten kommt zwar qualitativ und kriminaltechnisch nicht an die Kernbände heran, ist aber gut genug, um Lesevergnügen zu bereiten, da er die gewohnten Stärken gekonnt ausspielt.

 

*Der Gürtel ist eine Straße, die in einem Halbring durch die gesamte Stadt verläuft und mit dem tatsächlich sogenannten Inneren Ring die Begrenzung der Kernstadt Wien bildet. Die restlichen Außenbezirke südlich der Stadt und nördlich der Donau haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert.