Ich bin Buchgourmet und Buchgourmand quer durch viele Genres
Eine grandiose Kurzgeschichte zu schreiben, beziehungsweise einen Kurzroman, wie er hier von der Autorin und dem Verlag genannt wird, halte ich persönlich für eine weitaus größere Herausforderung, als einen normalen Roman zu verfassen. Eine ausreichende Figurenentwicklung auf wenigen Seiten zu betreiben und den fokussierten Plot spannend und überraschend zu gestalten, ist meiner Meinung nach extrem schwierig. Markéta Pilátová ist dies aber so hinreißend gelungen, dass ich Euch „bedauerlicherweise“ schon wieder mit einem meiner Buchstoffhöhepunkte 2019 „belästigen“ muss.
Da Tschechien ja gerade Gastland der Leipziger Buchmesse war, wurde es ohnehin Zeit, mich mal mit moderner zeitgenössischer tschechischer Literatur abseits der üblichen Verdächtigen zwei Ks – Kafka und Kundera – zu beschäftigen, zumal die Grenze zum literarisch mir relativ unbekannten Nachbarland ja nur exakt 76,8 km von meiner Haustüre entfernt liegt (meine restliche Familie wohnt teilweise weniger als 1km von der Grenze entfernt im nördlichsten Waldviertel). Ich glaube, es geht vielen von uns so, dass wir Tschechien heutzutage literarisch bisher fast nicht wahrgenommen haben, das haben Leipzig und zumindest bei mir auch meine EU-Autorinnenchallenge heuer maßgeblich geändert, und das hat sich so was von gelohnt, dass es eine Freude ist.
Aber worum geht es eigentlich in diesem von mir so euphorisch gelobten Kurzroman?
In zwei Erzählsträngen – der Vergangenheit und Gegenwart – wird die Geschichte von Frantisek Rek aufgerollt, der von Hitler die Nase voll hat und etwas gegen die Nazis unternehmen will. Da er zu Hause in Tschechien bei den Duckmäusern nix ausrichten kann, geht er nach Spanien in den Bürgerkrieg, um es den Faschisten zu zeigen. In der Gegenwart wird der alte abgewrackte Veteran von der spanischen Studentin Carmen interviewt, die ihm für ihre wissenschaftliche Arbeit im Fach Geschichte in ihrer unbekümmerten Art die wichtigsten essentiellsten Fragen über das Leben im (Bürger-)Krieg stellt, die sehr persönlich sind und weit über das empirisch historische Interesse hinausgehen. Sie stellt sehr fundamentale Fragen über das Warum, das Leben, das Sterben, die Angst und den Krieg, die eigentlich sehr selten von Veteranen überhaupt und wenn doch nicht ehrlich beantwortet werden. Frantisek gibt Carmen und dem Leser hier jedoch einen tiefen Einblick, irgendwie schimmern sogar ein bisschen wahrhaftige Erkenntnisse vom prinzipiellen Wesen des Krieges in diesem Interview hervor. Dabei spielt es in diesen Grundsätzlichkeiten des Tötens und der Angst keine Rolle, ob es ein „gerechter Krieg“ ist oder nicht.
Die Autorin formuliert diese elementaren Weisheiten so wundervoll und knackig, dass fast mein ganzes Buch mit Post-it-Zetteln übersät ist. Zum Beispiel die Beantwortung der Frage, warum der junge Frantisek überhaupt begeistert in einen weit von seiner Heimat entfent stattfindenden Krieg gezogen ist und was er überhaupt in Spanien verloren hatte, gipfelt in einer Kritik am Verhalten der tschechischen Bevölkerung während der Nazizeit:
Warum ich mich stattdessen heimlich nach Hause schlich, voller Abscheu vor all dem Verbotenen dort. Vor dem Kopf-in-den-Sand-Stecken. Der angeblichen Ohnmacht, mit der man hier dem Lauf der Geschichte zusah, der großen Geschichte, die uns als Schauer über den Rücken lief, vor der wir kuschten und krochen, weil wir ach so klein und schwach waren, und all dieses Hosenscheißergewäsch, das ich nicht ausstehen konnte und bis heute nicht leiden kann. Mit zwanzig wollte ich nicht klein und schwach sein. Ich wollte nicht zu diesem mickrigen Völkchen inmitten Europas gehören, das vor jedem in Schockstarre verharrt, der auf es drauftappt. Ich wollte Teil von etwas Großem und Erhabenen sein.
Mitten im Bürgerkrieg trifft er auch Hemingway, der für seinen Roman Wem die Stunde schlägt in seiner Einheit Interviews führt. Diese Konstruktion im Plot finde ich richtig grandios. Leider kann Frantisek dem weltberühmten Autor damals nicht genau sagen, warum er hier ist, und das nagt ordentlich an ihm.
Immerhin habe ich nach der Begegnung mit ihm angefangen, mich für Bücher zu interessieren. Ich hab sie gelesen, bis sie angefangen haben, mich aufzuregen. Bis mir klar geworden ist, dass er darin nur Gedöns macht und alles zu einem großartigen Abenteuer aufplustert. […] Und du, alter Wichtigtuer, der du so gerne Papier bekritzelt hast, statt wie die anderen ein Gewehr in die Hand zu nehmen und den Faschisten eine ordentliche Ladung zu verpassen, du schimmelst jetzt in der Grube.
So lässt Pilátová ihren Helden von Madrid über das Wesen des Tötens sagen:
Es ist als würde ein schwarzer Vogel dir seine Krallen ins Gesicht hauen, da die ganze Zeit sitzen bleiben und sich nicht rühren mit geschlossenen schwarzen Flügeln, […]
Und es ist als würde der Tote dir große Kraft geben. Eine große Ladung Kraft, Macht und Lust. […]
Und gegen diese Lust kämpft man dann an, und das ist die schwerste Schlacht überhaupt, das kannst du keinem erklären, höchstens den Mördern im Gefängnis, von denen ich mich vielleicht nie groß unterschieden habe.
Neben den grandiosen Einblicken und Weisheiten, der guten Figurenentwicklung und der großartigen Sprache ist der Autorin auch im Plot noch ein Bravourstück gelungen. Gerade mal auf 70 A5-Seiten vollführt die Geschichte durch die Recherche von Carmen angestoßen noch zwei sehr ungewöhnliche Schicksalswendungen im Leben von Frantisek, die mich richtig begeistert haben … und das Ende … na das dreht tatsächlich im allerletzten Satz noch einmal alles ganz lapidar auf Happy End.
Fazit: In der Kürze liegt die Würze. Ein wundervoller Kurzroman über den Krieg, das Leben und auch über die Liebe. Eines meiner Buchstoffhighlights 2019 und eine absolute Leseempfehlung für Euch. Der perfekte Einstieg, um tschechische Literatur kennenzulernen.
Ach ja, noch ein Nachtrag. Im Wieser Verlag ist dieses Buch im Rahmen einer Reihe erschienen, die uns tschechische Autor*innen näherbringen soll. Sie heißt Tschechische Auslese und umfasst 9 wundervoll gestaltete Kurzromane. Da ich alle bestellt habe, werdet Ihr wahrscheinlich im Laufe des Jahres noch mehr von mir über unterschiedliche Tschechische Schriftsteller*innen hören.